Nein, ich bin keine Corona-Leugnerin und keine Verschwörungstheoretikerin. Ich will einfach mein Leben leben. Und das tue ich auch soweit (und manchmal ein bisschen weiter) als es die aktuelle, resp. offizielle, Situation erlaubt. Ist ein Virus wirklich ein Grund, sich zu isolieren und alles dichtzumachen? Wovor haben wir solche Angst? Das Leben ist endlich und wir sind ihm grösstenteils ausgeliefert. Eigentlich wissen wir das alle. Nur hat uns das Leben in der sicheren und heilen Schweiz etwas anderes vorgegaukelt. Wir haben es uns gerne vorgaukeln lassen, denn das Leben lebt sich leichter so. Wir dachten, alles unter Kontrolle zu haben. Wir dachten, es gehe immer so weiter. «Noch mehr» lautete die Devise. Kriege, Naturkatastrophen, Krisen und Terror… wie schrecklich, aber zum Glück nicht bei uns. Vielleicht hat man auf FB sein Profilbild mit einem Banner versehen, welches die eigene Betroffenheit demonstrieren soll. Vielleicht hat man am Sammeltag der Glückskette gespendet für die ach so armen Menschen. Vielleicht hat man beim abendlichen Fernsehbild geseufzt und sich gefragt: «In was für einer Welt leben wir, was für eine schreckliche Spezies ist der Mensch?» Aber die sichere und heile Schweiz hat uns erlaubt, diese Bilder gleich wieder auf die Seite zu schieben. Denn schliesslich sind wir hier beschäftigt. Wir müssen arbeiten, Freundschaften wollen gepflegt und der Körper in Schwung gehalten werden. Und dann wollen wir alle noch ein bisschen Spass haben, denn das Leben ist schon ernst genug. Da bleibt kaum Zeit zu hinterfragen, da bleibt keine Zeit für echtes Mitgefühl, den Blick für die wirklichen Probleme, die nicht nur uns und unsere unmittelbare Umgebung betreffen, haben wir schon lange verloren. Was uns nicht persönlich betrifft, wird ausgeblendet. Denn das Leben lebt sich leichter so.
Armut und Freiheit sind auch eine Frage der Perspektive
In den letzten Jahren hörte ich in der sicheren und heilen Schweiz immer mal wieder Leute klagen, uns ginge es auch nicht mehr so gut wie früher und wir müssten deshalb für uns selbst schauen. Ausländer (nett ausgedrückt, sonst gerne mit Schmarotzer etc. betitelt) hätten wir schon genug. Andere fürchten um die Meinungsfreiheit und dass der Staat die totale Kontrolle über uns erlangt. Beides hat mich verärgert. Nicht weil ich die so sichere und heile Schweiz wirklich für das halte, sondern weil ich noch andere Realitäten kenne. Unsere Definition von arm ist im Vergleich zu wirklicher Armut in manchen Ländern ein Hohn. Auch ich gelte mit meinem Einkommen gemäss der Definition unserer Politiker als arm. Fühle ich mich so? Nein, überhaupt nicht.
Ich war in Indien und Bangladesch bei Familien zu Gast, die zu sechst oder mehr in einem einzigen Raum leben, den man bei uns höchstens als Geräteschuppen benutzen würde. Jeden Tag gibt es Reis und Linsen… morgens und abends. Für den Gast aus der Schweiz haben sie aber vorgesorgt und extra eine Flasche Cola gekauft.
Mehrmals legten mir wildfremde Mütter ihre Kinder in die Arme und flehten mich an, diese bitte mit mir nach Hause zu nehmen, damit sie ein besseres Leben haben können. Was soll man diesen Müttern sagen?
Was sagt man zu einem Menschen, der ohne Beine und Arme im staubigen Strassengraben liegt und um Almosen bettelt, während Busse, Motorräder und Autos gefährlich nah an ihm vorbeirasen?
Das bedeutet für mich Armut. Was wir hier in der Schweiz mit Sozialhilfe etc. als arm definieren, gehört für mich eher in die Kategorie «eingeschränkt leben».
Genauso wenig kann ich mit Argumenten anfangen, die besagen, dass uns hier in der Schweiz die Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung abhanden kommen*. Ich lebte neun Monate in der Militärdiktatur Ägypten. Dabei habe ich ein Gefühl für die latente Angst und das ständige Misstrauen entwickelt, welches die Menschen dort begleitet. Nie zu wissen, wer am Nebentisch oder selbst innerhalb der Gruppe mithört, schliesst gewisse Gesprächsthemen grundsätzlich aus. Mein erster Eindruck eines Volks, welches das Leben feiert, bröckelte schnell, als in Gesprächen die Frustration und Hoffnungslosigkeit hinter der Fassade hervortrat. Ich sprach mit vielen jungen Menschen, die in ihrem Leben nichts mehr erwarten. Sie sagen: «Besser nichts erwarten, als wieder enttäuscht zu werden.» So gross ist die Ernüchterung nach dem verpufften/verkauften arabischen Frühling. Aus dem Frühling ist längst Herbst geworden… mit Aussicht auf einen langen, kalten Winter.
Ich empfinde es deshalb als übertrieben, wenn SchweizerInnen sich über zu viel Staat und zu wenig Meinungsfreiheit bei uns beklagen. Allein eine solche Aussage könnte sie in anderen Ländern in die Bredouille bringen. Während man hier auf FB posten kann, was für ein Dummkopf ein gewisser Bundesrat ist, ohne dass man Konsequenzen fürchten muss.
Corona als Chance?
Ich habe mir immer gewünscht, dass die Menschen hier ihr grosses Glück und Privileg mehr wahrnehmen und schätzen. Das Auftauchen des Coronavirus in Europa empfand ich deshalb als spannend. Endlich betrifft mal etwas uns und nicht nur weit entfernte Länder und Menschen. Endlich gibt es auch in unserer sicheren und heilen Schweiz einen Unsicherheitsfaktor. Vielleicht lehrt uns das endlich wieder etwas mehr Demut und Gelassenheit.
Leider ist meine Hoffnung nicht wirklich erfüllt worden. Anstatt das Leben wieder als das zu sehen, was es ist, nämlich endlich und nicht kontrollierbar, und es als solches zu schätzen, wurde überreagiert. Voller Furcht verfolgte man die steigende Kurve. Fallzahlen, R-Wert, Übersterblichkeit: Plötzlich gehörten diese Begriffe zu unserem alltäglichen Vokabular. Man sprach von «wie im Krieg», obwohl die meisten, die diesen Ausdruck brauchten, wohl selbst nie Krieg erlebt haben. Die Vorhersagung von nicht genug Spitalbetten hing plötzlich wie ein Damoklesschwert über uns (übrigens eine Situation, die in vielen Ländern Alltag ist, auch ohne Corona). Man ging zum Kampf über, wollte das Virus eliminieren. Man schloss Läden, Restaurants etc., isolierte Menschen, damit möglichst wenige von ihnen an Corona sterben. Dabei scheint es niemanden zu stören, dass die Menschen in ihrer Isolation vereinsamen und in Depressionen versinken. Niemand scheint sich daran zu stören, dass Menschen rauchend, Alkohol trinkend und Chips essend vor dem Fernseher sitzen. Bringt dieses Verhalten nicht schon seit Jahrzehnten viele Leute um oder macht sie zumindest krank? Werden Zigaretten, Alkohol und Junk-Food deswegen verboten? Nein, dafür wird zu viel Geld damit verdient. Man überlässt es der Eigenverantwortung des Einzelnen, ob und in welchem Mass er davon konsumiert und sich damit dem Risiko von Lungenkrebs etc. aussetzt. Warum können wir z. B. Krebs als Todesursache akzeptieren, aber nicht Corona? Weil Lungenkrebs nicht ansteckend ist? Geht es bei den Diskussionen rund um Corona also gar nicht um das Wohl aller, sondern bloss um die eigene Sicherheit? Wollen deshalb manche Leute (darunter lustigerweise auch Raucher, Übergewichtige und Menschen, die sonst Chinas Überwachungspolitik kritisieren) plötzlich nichts mehr von Eigenverantwortung und Selbstbestimmung wissen, wenn es um das Tragen von Masken, Treffen ausserhalb des eigenen Haushalts oder Impfungen geht? Ich habe nichts gegen Menschen, die sich impfen lassen wollen oder unter Freunden eine Maske tragen etc. Ich habe aber etwas gegen Menschen, die das tun und erwarten, dass alle anderen es auch tun sollten und falls nicht, diese als verantwortungslos und unsolidarisch bezeichnen. Es soll doch jeder mit dem Virus so umgehen, wie es für ihn stimmt. Jeder hat sein eigenes Sicherheitsbedürfnis und seine eigene Risikobereitschaft. Corona gehört zum Leben wie alle anderen Gefahren auch.
Für 2021 wünsche ich mir, dass wir diese Tatsache akzeptieren lernen und wieder anfangen zu leben. Ohne Panikmache und ohne mit dem Finger auf andere zu zeigen. Dafür mit dem Blick auf die wirklichen Probleme und Ungerechtigkeiten auf dieser Erde. Alles Gute, bleibt gesund und neugierig! Das Leben ist schön…
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* Die aktuellen Diskussionen rund um die Corona-Impfung etc. lassen inzwischen auch bei mir ein ungutes Gefühl hochkommen.
Impressionen von Reisen, die zum Glück auch im Corona-Jahr möglich waren
< «Wir können etwas ändern» In der absoluten Stille hört man mehr >
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