Varanasi ist dreckig. Varanasi ist laut. Varanasi ist chaotisch. So wurde mir eine der heiligsten Städte des Hinduismus vor meiner Abreise beschrieben. Während sechs Monaten wurde Varanasi zu meinem Zuhause, einem geliebten Zuhause. Denn Varanasi ist vor allem auch eins: Schön, faszinierend und spannend.
Das Leben in Varanasi ist intensiv. Nichts wird beschönigt. Neuankömmlinge sind oft überfordert, wenn die vielen neuen Eindrücke mit der Wucht eines tropischen Gewitters über ihnen hereinbrechen und froh, wenn sie diesem Inferno nach ein paar Tagen wieder entfliehen können. Auch ich werde mitunter durchgerüttelt. Doch es befreit mich. Varanasi öffnet all meine Sinne. Berauscht mich. Die Augen, ich möchte sie nie mehr schliessen. Indische Pilger tun genau das. Sie kommen, um zu sterben. Wer hier stirbt, wird erlöst vom ewigen Kreislauf der Wiedergeburt.
Nur wer fähig ist, sich treiben zu lassen, Indien mit all seinen positiven und negativen Seiten hinzunehmen, kann Varanasi geniessen. Gelassenheit ist das Zauberwort.
VARANASI IST CHAOTISCH
Verrückte Motorradfahrer, Velo- und Autorickshaws, Autos, Fussgänger und Kühe teilen sich die Strassen. Es gibt keine Ampeln und Sicherheitslinien. Jeder sucht sich den Weg dort, wo es am schnellsten vorwärts geht.
Am Rande der Strasse legen die Bauern Früchte und Gemüse auf Holzkarren oder auf Decken am Boden aus. Der Friseur hängt einen Spiegel an die türkisfarbige Hausmauer und bedient die Kunden unter freiem Himmel. An den rostigen Wasserpumpen nehmen die Männer ein Bad und die Frauen waschen das Geschirr und ihre bunten Saris. Ein paar Meter daneben verrichtet jemand sein ganz persönliches Geschäft.
Alltag in Varanasi.
VARANASI IST LAUT
Das Horn oder die Klingel gehört zu den wichtigsten Bestandteilen eines Fahrzeugs, um sich im Chaos durchzusetzen. Tag und Nacht hallt aus den hinduistischen Tempeln der Gesang von Mantras. Gleichzeitig ruft der Muezzin den muslimischen Teil der Bevölkerung zum Gebet. Die Gläubigen eilen zur nächsten Moschee und gehen dabei an Türen vorbei, hinter denen ein gleichmässiges Rattern zu vernehmen ist. Es ist das Geräusch von Webstühlen, an denen die berühmten Banarsi Seidensaris hergestellt werden. Ein paar Seitenstrassen weiter tragen Männer ihren toten Verwandten von Sprechgesängen begleitet zum Manikarnika Ghat, dem Kremationsplatz am Ufer des Ganges: «Ram naam satya hai, ram naam satya hai» (Der Name Ram’s ist wahr). Übertönt wird die allgemeine Geräuschkulisse von den aktuellsten Bollywood Songs, welche aus den Mobiltelefonen der Passanten schallen.
Strassenköter verwandeln sich bei Kämpfen um das Territorium in knurrende Bestien. Nicht selten tragen einige der Kontrahenten hässliche Wunden davon, die in der Hitze des Tages schnell Fliegen anziehen. Dafür, dass viele Hunde auch ein lahmes Hinterbein haben, sind aber meist Autos, Motorräder und Rickshaws verantwortlich. Nur die Kuh ist heilig und wird grossräumig umfahren.
Auch Affen verteidigen ihr Stammesgebiet. Bei Verfolgungsjagden in luftiger Höhe lassen sie Vordächer aus Wellblech scheppern und Stromkabel surren. Ein Kurzschluss und mein Computer ist tot. Ein Test für meine neu gewonnene Gelassenheit.
Und über allem tönt das leise Schnurren der vielen Papierdrachen, die den Himmel als bunte Farbtupfer überziehen.
Alltag in Varanasi.
VARANASI IST DRECKIG
Alles, was nicht mehr gebraucht wird, landet auf der Strasse. An manchen Orten kommen Abfallsammler vorbei, an anderen bleibt der Müll so lange liegen, bis er verrottet oder von einer Kuh oder einem anderen Tier gefressen wird. Wer sieht, was die Viecher hier fressen, dem vergeht der Appetit auf Fleisch. Zum Glück lässt es sich in Indien auch als Vegetarier hervorragend leben. Natürlich hinterlassen auch die Tiere ihre Spuren in den engen Gassen. Wer nicht aufpasst, steht schnell in der Scheisse. Gut, wenn es sich dabei um einen Kuhfladen handelt, denn das bringt angeblich Glück.
Alltag in Varanasi.
VARANASI IST SO WUNDER-WUNDERSCHÖN
Wer frühmorgens mit dem Boot auf dem Ganges unterwegs ist, wird sich dem Zauber dieser Stadt nicht entziehen können. In einer sanften Biegung reihen sich über 80 Ghats, steinerne Treppen, die zum Wasser hinunterführen, aneinander. Einige wirken ruhig und verlassen. An anderen tummeln sich die Pilger und Einheimischen bei ihrem morgendlichen Baderitual. Alles leuchtet, alles strahlt, als wäre es der erste und letzte Morgen zugleich. Vergessen ist der Lärm und die Hektik der Strassen.
Alltag in Varanasi.
Bilder: Varanasi – Soul City
< Book Recommendation: IndiaClin d’oeil >
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COMPLETLY WONDERFUL SHORT.