Vor ein paar Tagen jährte sich der Einsturz des Rana Plaza Gebäudes in einem Vorort von Dhaka, Bangladesch. Darin untergebracht waren mehrere Textilfabriken, die für Modelabels in Europa und Nordamerika produzierten. Fast 3600 ArbeiterInnen wurden am 24. April 2013 unter den Trümmern des zum Teil illegal und mit ungenügendem Baumaterial errichteten Gebäudes begraben. Über 1130 Menschen verloren dabei ihr Leben. Die Überlebenden wurden zum Teil schwer verletzt oder traumatisiert. Viele von ihnen sowie die Hinterbliebenen der Getöteten warten noch immer auf eine angemessene Entschädigung. Besonders tragisch ist der Vorfall, weil sich einige ArbeiterInnen am Unglückstag sträubten, die Fabrik zu betreten, nachdem sie Risse in den tragenden Säulen entdeckt hatten. Doch sie wurden von ihren Vorgesetzten unter Druck gesetzt und zur Arbeit gezwungen.
Alle drücken sich vor der Verantwortung
Die International Labour Organization (ILO) hat nach dem Unglück einen Fonds eingerichtet und die in Bangladesch produzierenden Modelabels dazu eingeladen eine Spende zur Unterstützung der Opfer (Lohnausfälle und medizinische Kosten) einzuzahlen. Von den angepeilten 40 Millionen US$ sind bis heute allerdings nur rund 17 Millionen US$ eingegangen. (www.ranaplaza-arrangement.org)
Auch sonst bleibt ein Jahr nach der Tragödie von der weltweiten Empörung und dem Schrei nach einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen nicht mehr viel übrig. Der Mensch (und ich will mich davon nicht ausschliessen) vergisst schnell. Und er vergisst gerne, wenn er im H&M die neue Sommerkollektion anprobiert und im C&A eine Bluse für CHF 7.- aus dem Wühltisch fischt. Zwar wurde inzwischen der Mindestlohn in der Textilindustrie von 34 CHF/Monat auf rund rund 60 CHF/Monat angehoben, er ist im internationalen Vergleich aber immer noch zu tief. Und wegen politischen Unruhen im Vorfeld der Wahlen vom Januar 2014 wurden die Inspektionen der Fabriken in Bezug auf die Gebäudesicherheit lange Zeit verhindert. Kommt dazu, dass Bangladesch in diesem Bereich kaum auf die Unterstützung der Branche zählen kann. Weltweit haben 150 Unternehmen das Abkommen «Accord» unterzeichnet. Sie verpflichten sich damit, die Fabriken ihrer Zulieferer auf die Sicherheit zu überprüfen und bei allfällig nötigen Sanierungen finanzielle Unterstützung zu leisten. In der Schweiz haben bis jetzt nur Switcher, Charles Vögele und Vistaprint das Abkommen unterzeichnet.
Während für die Firmenbosse und die westlichen Konsumenten der Alltag längst wieder begonnen hat, geht für die Betroffenen des Unglücks das Trauma weiter. Fast alle haben etwas verloren. Mütter ihre Töchter. Kinder ihre Eltern. Junge Frauen ihre Beine. Junge Männer ihre Arme. Und damit eine Chance auf einen Job. Einige verloren den Verstand. Sie leiden unter Albträumen und bekommen Schweissausbrüche, wenn sie eine Fabrik betreten. Und fast alle verloren den Glauben daran, dass sie irgendwann die von der Regierung und den Unternehmen versprochene Hilfe erhalten werden.
Was also können wir als Konsumenten tun? Eine Frage auf die ich leider keine abschliessende Antwort weiss. Falsch wäre es, Kleider aus Bangladesch zu boykottieren. Denn die Textilbranche ist ein wichtiger Sektor und sichert tausenden von Bangladeschis, darunter viele Frauen, ein Einkommen. Es hilft auch nicht, nur die Billigware zu boykottieren. Denn auch teurere Labels produzieren in Bangladesch unter den gleichen oder ähnlichen Bedingungen wie die Billigmarken. Auf der Website von Public Eye (ehemals Erklärung von Bern) findet man Firmenchecks, die zeigen wie fair diverse Modelabel produzieren.
Ein Augenschein in einer Textilfabrik in Moghbazar
In meinem Quartier in Moghbazar gibt es mehrere Textilfabriken, die von aussen allerdings nicht von den anderen Gebäuden zu unterscheiden sind. Erst nach einigen Tagen kann ich die Zeichen richtig deuten. Jeden Morgen und Abend schwillt der Lärmpegel in meiner Gasse plötzlich an. Dutzende von Frauen in farbigen Salwar Kameez strömen von ihren Häusern auf der anderen Seite der Geleise in die Fabriken auf meiner Seite und am Abend wieder zurück. In einer Fabrik, die seit dem Rana Plaza Unglück wegen Sicherheitsmängeln offiziell geschlossen wurde, betreten und verlassen die Arbeiterinnen das Gebäude durch einen Hintereingang.
Journalisten werden in den Kleiderfabriken nicht gerne gesehen und nur nach Voranmeldung empfangen. Ich kann mich zum Glück auf die Hilfe von meinen Freunden in der Nachbarschaft verlassen. Mr. Sohel, der Verkäufer von Bestattungsutensilien, und Furkan alias Sajan, ein Streetfoodverkäufer, schleusen mich an einem Dezembernachmittag in eine der Fabriken in der Nachbarschaft ein. In einem Vorzimmer werde ich empfangen und auf Herz und Nieren getestet. Man will wissen, wer ich bin und was ich hier mache. Ich erkläre, dass ich eine Studentin aus der Schweiz bin und mir gerne mal eine Textilfabrik von innen ansehen möchte. Sie scheinen mir nicht zu trauen und halten per Telefon Rücksprache mit ihren Vorgesetzten. Diese lassen ausrichten, dass ich doch bitte am Sonntag wiederkommen soll (Sonntag ist in Bangladesch ein normaler Arbeitstag). Doch dann spielt Mr. Sohel seinen Trumpf aus. Irgendein Verwandter oder Freund, der eine höhere Position in der Fabrik innehat, wird ins Spiel gebracht und fünf Minuten später werde ich auf einen Rundgang durchs Gebäude mitgenommen. Dummerweise bleiben zwei Aufpasser stets an meiner Seite und schauen zu, dass ich nicht zu lange an einem Ort verweile oder zu viele Bilder mache.
Im obersten Stock wird der Jeansstoff von der Rolle abgewickelt, in Bahnen ausgelegt und in Stücke geschnitten. Auf den beiden unteren Etagen, werden die Einzelteile danach zu Jeans zusammengenäht, mit Knöpfen und Reisverschlüssen versehen, gebügelt, zusammengelegt und in Schachteln mit einer Adresse in Frankreich verpackt. Mir fällt auf, dass an den Nähmaschinen praktisch nur Frauen hocken. Einige von ihnen wirken sehr mädchenhaft und ich zweifle, ob sie bereits 15 Jahre alt sind. Das Bügeln und die Positionen als Aufpasser hingegen sind fest in Männerhand.
Link:
The ghost of Rana Plaza (ein ausführlicher Bericht von Jason Motlagh über das Rana Plaza Unglück und seine Folgen)
Die Schweizer Journalistenschule MAZ und die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA bieten jedes Jahr einigen jungen Journalisten und Fotografen die Chance, für ein paar Monate auf Redaktionen in Ländern des Südens zu arbeiten. Im Rahmen dieses Projekts habe ich vom 19. September 2013 bis am 17. Januar 2014 für die Zeitung «The Daily Star» in Dhaka, Bangladesch, fotografiert. Was ich dabei erlebt habe, findet Ihr in diesem Blog unter der Rubrik Bangladesch. Meine Beiträge sowie jene von meinen Kollegen in anderen Ländern könnt Ihr auch hier verfolgen.
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