Am 2. November 2013 feiern die Hindus Kali Puja. Am nächsten Morgen ist es den Leuten aus Bangladesch und Indien erlaubt für ein paar Stunden an den Grenzzaun zwischen den beiden Ländern zu kommen, um dort mit ihren Freunden und Verwandten auf der anderen Seite zu sprechen. Helal und ich wollen diesen Anlass mit unseren Kameras festhalten und beschliessen für ein paar Tage nach Lalmonirhat zurückzukehren. Als die Schweizer Botschaft in Dhaka von meinen Plänen hört, raten sie mir von Reisen zum jetzigen Zeitpunkt im Allgemeinen und an Festivals einer Minderheit (Hindus machen nur rund 10 Prozent der Bevölkerung Bangladesch’s aus) im Besonderen ab. Ich will den speziellen Moment an der Grenze aber auf keinen Fall verpassen und nach Rücksprache mit den Leuten auf der Redaktion, die die Situation weitaus entspannter einschätzen, ist klar, dass ich fahren werde. Am Abend meines Geburtstages sitzen Helal und ich im Park bei Shahbag und buchen telefonisch die Tickets für den Nachtbus am nächsten Tag.
Dieses Mal planen wir genug Zeit für die Fahrt an den Busbahnhof ein und auch sonst verläuft die Reise viel entspannter als beim ersten Mal (s. Bericht: «Grenzerfahrungen»). Bereits um 5 Uhr morgens erreichen wir Lalmonirhat. Das Guesthouse ist noch geschlossen, doch zum Glück hat Helal die Nummer des Nachtportiers gespeichert.
Nach ein paar Stunden Schlaf gehen wir ins Café Adda, wo wir unsere alten Bekannten Neon, Sazu, Miraj und neu auch den Daily Star Korrespondenten für Lalmonirhat, Dilip, treffen. Später kommt Sergeant Moshiur hinzu. Dieser lädt mich und Helal zum Mittagessen in sein Haus ein. Der Besuch dehnt sich im Anschluss ans Essen zu einem Familienausflug aus. Zusammen mit Moshiur’s Frau Munmun, Tocher Roshni und Sean, einem Jungendlichen, der für Moshiur’s Familie «Mädchen» für alles ist und im Gegenzug von ihnen Unterkunft, Essen und Ausbildung bezahlt bekommt, fahren wir zur Harano Masjid, der verlorenen Moschee. Unterwegs steigen für eine Teilstrecke noch zwei weitere Personen zu. Wir sind nun zu acht in einem normalen PW unterwegs. Als Polizist kann man sich in Bangladesch wohl so einiges erlauben.
Die Harano Masjid gilt als eine der ältesten Moscheen der Welt und war lange Zeit im Boden des Dschungels versunken. Die Ausgrabungen gehen nur langsam voran und über den Überresten der alten Moschee wurde inzwischen eine neue errichtet. Als Frau darf ich die religiöse Stätte nicht betreten. Und so bleibt mir bloss ein Blick zur Tür rein.
Von der Moschee geht es weiter zu einem Hindutempel an einem grossen Teich. Inzwischen ist es dunkel und ich kann die Schönheit des Ortes nur erahnen. Wir nehmen uns trotzdem Zeit für ein Picknick, zu dem sich sogar der Gemeindepräsident hinzugesellt.
Ich geniesse die Fahrt zurück nach Lalmonirhat. Strassenbeleuchtungen gibt es in Bangladesch kaum. Doch wenn man durch die kleinen Dörfer fährt, spenden kleine Öllampen, Kerzen und Glühbirnen in den Läden und Restaurants warmes Licht und lassen die Menschen davor als schwarze Schatten über die Strasse huschen. In ein paar Lokalen läuft ein Fernseher, was jeweils Männer unterschiedlichen Alters anzieht. An anderen Orten wird noch gearbeitet. Hammerschläge ertönen aus kleinen Workshops und ein paar Mal lässt mich das grelle Licht aus einer Schweisserei schnell den Blick abwenden. Ich könnte stundenlang so durch die Nacht gondeln und dabei meinen Gedanken nachhängen. Deshalb sage ich nicht nein, als mich Moshiur zurück in Lalmonirhat fragt, ob ich ihn und fünf seiner Freunde auf einem nächtlichen Trip zum Teesta River begleiten möchte. Während sich die fünf Freunde auf die Rückbank quetschen, darf ich auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. An der Brücke über den Teesta River halten wir an. Doch vom Fluss ist nicht mehr viel übrig. Der Boden ist sumpfig, aber Wasser fliesst nur wenig. Moshiur erklärt mir, dass dies mit den Staudämmen, die Indien oft in unmittelbarer Nähe zu Bangladesch’s Grenzen baut, zusammenhängt. Indien schneidet so seinem Nachbar die Wasserversorgung ab. Aus seinen Worten höre ich deutlich die Frustration über diese Praktiken heraus. Ich beschliesse, der Sache in den nächsten Tagen ein bisschen genauer auf den Grund zu gehen und mir mal bei Tageslicht ein Bild über die Situation zu machen. (Bericht und Fotos: «Bangladesch trocknet aus»)
Doch es sollte anders kommen…
Zu Fuss nach Indien
Am zweiten Tag in Lalmonirhat nehmen Helal und ich am frühen Morgen den Zug nach Patgram. Dort werden wir von einem Kollegen von Sergeant Moshiur erwartet. Er soll für unsere Sicherheit sorgen. Bevor wir mit Polizeischutz zum Tin Bigha Korridor fahren, nehmen wir unser längst fälliges Frühstück (Roti und Sobji = Fladenbrot und Gemüsecurry) zu uns. Weil Helal die Toilette des Restaurants für mich als untauglich einstuft, nimmt mich der Polizist mit zu einem Hotel. Er fordert den Jungen an der Reception auf, mich auf ein Zimmer zu führen, um dort die Toilette zu benutzen. Der Polizist stellt sich mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor der Tür auf und wartet bis ich fertig bin. So muss sich wohl ein Sportler bei der Dopingkontrolle fühlen.
Der Tin Bigha Korridor verbindet Bangladesch mit seiner grössten Enklave Dohogram-Angorpotha. Es ist ein 178 Meter langes, auf beiden Seiten eingezäuntes, Stück Land, das zu Indien gehört und von der indischen BSF (Border Security Force) kontrolliert wird. Der Güterverkehr ist beschränkt, aber immerhin steht der Korridor seit September 2011 für die Einwohner während 24 Stunden am Tag offen. Dohogram-Angorpotha ist die einzige Enklave im verzettelten Grenzgebiet zwischen Indien und Bangladesch die so mit dem Mutterland verbunden ist. (Für mehr Informationen über den Grenzkonflikt zwischen Indien und Bangladesch siehe meinen früheren Blogeintrag «Grenzerfahrungen».)
Als wir beim Tin Bigha Korridor ankommen, reden wir zuerst mit den Grenzsoldaten auf der bangladeschischen Seite. Helal erklärt ihnen unser Vorhaben und sie tragen unsere Namen und unsere Herkunft in ein Buch ein. Danach stellen wir uns den Fragen der indischen BSF (Border Security Force). Sobald wir das Okay haben, gehen wir zu Fuss durch den Korridor. Helal und ich grinsen uns an. Es ist ein spezielles Gefühl ohne Pass und Visum indisches Land zu durchqueren. Wir getrauen uns aber weder anzuhalten noch einen Schritt neben die Strasse zu machen, geschweige denn die Kamera in die Hand zu nehmen.
Am Ende des Korridors wartet unser CNG, das die Grenze leer passieren musste, auf uns. Wir durchqueren die gesamte Enklave, die sich auf einer Fläche von rund 25 km2 erstreckt. Sie besteht hauptsächlich aus Ackerland und kleinen Siedlungen. Die Menschen wohnen in einfachen Wellblechhütten, auf deren Wände sie oft zwei Vögel gemalt haben. Leider kann mir niemand die genaue Bedeutung dieses Symbols erklären. Schliesslich halten wir an und gehen zu Fuss weiter. Ich erfahre erst nach einigen Schritten, dass wir uns nun im Niemandsland zwischen Indien und Bangladesch befinden. Also dort, wo niemand genau weiss, wo die Grenze verläuft, da der Grenzzaun 135 Meter innerhalb des indischen Staatsgebiets liegen muss. Helal ist nervös. Er lässt sich zurückfallen und plädiert darauf umzukehren. Doch «unser» Polizist geht strammen Schrittes voraus. Ein paar lokale Männer schliessen sich uns neugierig an. In der Ferne sehe ich ein paar Wachtürme von der indischen BSF. Seit meinem letzten Besuch in der Grenzregion weiss ich, dass die indischen Soldaten immer mal wieder Leute erschiessen, die sich in dieser Zone bewegen. Ich hoffe, dass sie uns gut gesinnt sind und ihre Gewehre ruhen lassen.
Wir gelangen zu einem Stein, auf dem eine Null aufgemalt ist. Ich stehe auf der sogenannten «Zero Line», der Grenze zwischen Indien und Bangladesch. Der Polizist geht unbeirrt weiter. Doch Helal hat genug. Er pfeift zum Rückzug. Auf der Rückfahrt durch die Enklave machen wir einen kleinen Abstecher zum Teesta River. Auch hier ist das Wasser nicht sehr tief und mehrere Sandbänke erheben sich aus dem Flussbett. Die Anwohner erzählen uns, dass die indischen Grenzsoldaten auf ihre Leute geschossen haben, als diese eine Uferböschung mit Steinen befestigen wollten. Sie mussten die Arbeiten daraufhin einstellen. Machtlos sind sie den Launen der BSF ausgeliefert.
Zu uns sind die Soldaten der BSF nett und zuvorkommend. Zurück beim Tin Bigha Korridor fangen sie an mit uns zu plaudern. Sie fragen sich, ob wohl schon jemals ein anderer Ausländer vor mir den Tin Bigha Korridor durchquert hat. Ich bin mir fast sicher, dass schon andere Journalisten oder NGO-Mitarbeiter hier gewesen sind, aber zumindest für die momentan anwesenden Grenzsoldaten bin ich die erste Ausländerin, die sie hier sehen. Helal traut den Soldaten nicht und drängt darauf, den Korridor zu verlassen. Erst einige Tage später gibt er zu, dass er während des ganzen Ausflugs extrem angespannt war. Sein Mentor, der die Gegend selber gut kennt, hat ihn zu besonderer Vorsicht ermahnt, wenn er mit einer Bideshi (Ausländerin) in dieses Gebiet fahre. Deshalb stand Helal heute auf der Bremse, was das Erkunden und Fotografieren der Enklave angeht. Der Trip half uns aber einen ersten Eindruck von der der Umgebung und den Einwohnern der Enklave zu gewinnen und uns bei den indischen und bangladeschischen Grenzsoldaten vorzustellen. Um mit der wirklichen Arbeit und dem Fotografieren zu beginnen, wollen wir ein anderes Mal zurückkehren.
Doch es sollte anders kommen…
Harte Landung
Am nächsten Morgen früh fahren wir zu dritt auf dem Motorrad von Daily Star Korrespondent Dilip nach Hatibandha. Wir wollen am Grenzzaun Bilder machen, wenn sich einmal im Jahr die Verwandten und Freunde beidseits der Grenze treffen und während zwei, drei Stunden ein paar Worte wechseln können.
Als wir losfahren sind noch kaum Leute unterwegs. Ich sitze zuhinterst auf dem Motorrad und geniesse das Freiheitsgefühl und den Wind in den Haaren, als wir über die Landstrasse holpern. In Reiseführern wird wegen der hohen Unfallgefahr vor Überlandfahrten gewarnt. Und auch im Daily Star erscheinen täglich Berichte über Todesfälle auf der Strasse. Ich rechne zusammen, dass ich bereits rund 1500 Kilometer mit Überlandbussen zurückgelegt habe, die meisten davon nachts. Dazu kommen ein paar hundert Kilometer auf dem Sozius verschiedener Motorräder im Verkehrschaos von Dhaka. Mit einer Ausnahme habe ich bis jetzt aber nur Fast-Zusammenstösse gesehen und erlebt. (Die Ausnahme ereignete sich vor ein paar Tagen, als meine Rickshaw frontal von einem CNG gerammt wurde und ich eine Wunde am Schienbein davontrug.)
Nur wenige Minuten nachdem ich diese Zwischenbilanz gezogen und beschlossen habe, dass das, was ich bis jetzt in Bangladesch erlebt habe, jegliches Risiko wert ist, liege ich und meine zwei Kollegen auf der Strasse. Was ist passiert? Der Verschluss von Dilip’s Helm löste sich während der Fahrt. Beim Versuch ihn mit einer Hand zu schliessen, verliert Dilip bei einer Bodenwelle die Kontrolle über das Motorrad. Dass die Strasse von den nächtlichen Regenfällen immer noch nass ist, tut das Übrige. Wir haben keine Chance und rutschen seitlich weg. Obwohl alles sehr schnell geht, erlebe ich den Sturz wie in Zeitlupe. Sofort sind ein paar Leute aus dem Dorf bei uns und helfen uns auf die Beine. Noch etwas benommen versuchen wir den Grad unserer Verletzungen abzuschätzen. Obwohl Helal und ich keinen Helm trugen, haben wir glücklicherweise keine Kopfverletzungen. Dilip hat trotz Helm eine kleine Wunde am Kopf und ein paar Schürfungen am restlichen Körper, scheint aber sonst unversehrt. Meine und Helal’s Hosen sind am rechten Knie zerrissen. Und als ich durch das Loch auf Helal’s Knie blicke, denke ich: «Hoffentlich sieht es bei mir nicht gleich aus». In Helal’s Knie gräbt sich ein tiefes Loch, das aussieht, als wäre es mit einem Glacelöffel ausgestochen worden und in dessen Innerem etwas Weisses aufblitzt. Vorsichtig wage ich einen Blick auf mein eigenes Knie und bin froh, dass es «bloss» eine offene Wunde ist. Nach dem ersten Schock setzen die Schmerzen ein. Ich hocke mich bei einem Laden am Strassenrand nieder. Jemand reicht mir Wasser, um das Gesicht, den Mund und die Hände zu waschen. Danach will ich ein Bild unserer Unfallstelle machen, aber als ich die Kamera aus der Tasche nehme, muss ich feststellen, dass das Gehäuse meiner D800 ist gespalten. Der Auslöser funktioniert zwar noch, ich kann aber keine Einstellungen vornehmen und wenn ich durch den Sucher schaue, sehe ich bloss ein rotes, blinkendes Licht. Für eine Fotografin ein absolutes Desaster. Trotzdem bleibe ich relativ ruhig. In allen Situationen Ruhe und Gelassenheit zu bewahren, ist eine der wichtigsten Errungenschaften, die ich mir bei meinen Aufenthalten in Indien und Bangladesch angeeignet habe.
Inzwischen ist der Besitzer der Dorfapotheke eingetroffen und öffnet seinen Shop, um eine Erstversorgung der Wunden zu machen. Der religiöse Mann (Bart, weisse Kurta und Gebetskäppchen) kümmert sich aber nur um Dilip und Helal. Ich gehe daneben total vergessen. Ob versehentlich oder absichtlich kann ich nicht sagen. Ich könnte mir aber vorstellen, dass er sich nicht getraute, einer westlichen Frau anzunehmen. Ich verlange nach Wasser und spüle mir die Wunden abseits des Rummels selber aus.
Alle Konversationen wurden bis jetzt in Bangla geführt. Nun aber erklärt mir Helal das weitere Vorgehen in Englisch. Wir werden wieder zu dritt auf dem Unfalltöff die rund 45-minütige Fahrt nach Lalmonirhat zurücklegen, um dort das staatliche Spital aufzusuchen. Wir hoffen, dass man uns dort wieder soweit auf Vordermann bringt, dass wir im Anschluss eventuell in einem Auto doch noch an die Grenze fahren können. Wir informieren Sergeant Moshiur und Sazu über den Vorfall. Sazu ist mit einem anderen Reporter ebenfalls mit dem Motorrad unterwegs an die Grenze. Als sie von unserem Unfall hören, kehren sie aber sofort um und fahren zu uns ins Spital.
In der Notfallaufnahme stehen ein paar Eisenbetten mit halb zerfetzten Schaumgummimatratzen. Ein paar Leute stehen rum, wobei ich nicht erkennen kann, ob es sich dabei um Ärzte, Pfleger oder bloss Schaulustige handelt. Ein paar von ihnen wenden sich Helal zu. Sie tupfen seine Wunden am Knie und Arm ab und desinfizieren sie mit Jod. Anschliessend werden die Wunden verbunden. Inzwischen ist auch Helal’s Fussgelenk stark geschwollen, aber keiner der Ärzte/Pfleger hält es für nötig, ein Röntgenbild zu machen. Nach zwei Spritzen (Schmerzmittel und Tetanus), die sie Helal verabreichen, scheint für die Pfleger die Arbeit erledigt. Erst als Sazu sie darauf aufmerksam macht, dass noch eine weitere Patientin im Raum ist, kommen sie zu mir. Ich bin froh, dass ich heute meine Trekkinghosen angezogen habe. Dank einem Reisverschluss, durch den sich die langen Hosen zu Shorts kürzen lassen, kann ich das Knie soweit offenlegen, dass es behandelt werden kann, ohne zu viel von meinen Beinen preiszugeben. Die Behandlung ist alles andere als sanft. Besonders die Spritzen, die mir am Schluss in den Oberarm gerammt werden, sind schmerzhaft. Am nächsten Tag ist der halbe Arm blau und schmerzt noch wochenlang. Nichtsdestotrotz versuche ich den Leuten, die sich neugierig um mein Bett versammelt haben, ihre Fragen zu beantworten. Obwohl ich es normalerweise verabscheue, wenn wir als (Foto)journalisten zu den Verwundeten ans Krankenbett gehen, verlange ich jetzt von Sazu, dass er Bilder von mir macht :-).
Mir ist bereits in Indien aufgefallen, dass die Ärzte den Patienten für alles Antibiotika verschreiben. Ich will deshalb genau wissen, was auf meinem Rezept steht, und bin nicht überrascht nebst Schmerztabletten und einer antibakteriellen Wundsalbe auch ein Antibiotikum zu finden. Ich finde nicht, dass ich für meinen Grad der Verletzung Antibiotika brauche und nach einigem Hin und Her des Arztes («du brauchst das unbedingt» bis zu «eigentlich ist es nicht nötig») wird es von der Liste gestrichen. Helal’s Medikamentenliste ist länger und beinhaltet natürlich auch Antibiotika. Als bei einer Nachkontrolle ein paar Tage später ein anderer Arzt das Knie anschaut, schlägt er jedoch ein anderes Antibiotikum vor. Ich finde es komisch mitten in der Antibiotikakur das Medikament zu wechseln, aber ausser mir scheint sich niemand daran zu stören. Und bei der Apotheke, wo wir die Medikamente gekauft haben, nehmen sie die Pillen anstandslos zurück und tauschen sie gegen andere ein. Tabletten werden in Bangladesch einzeln, entsprechend der auf dem Rezept vermerkten Anzahl, verkauft. Man hat so zwar keine Schachtel und keinen Beipackzettel (Informationen zu den Medikamenten findet man heute aber auch online) aber dafür nach der Genesung auch keine angebrochenen Medikamentenpackungen, die nach einiger Zeit sowieso ablaufen. Dieses System wäre vielleicht eine Überlegung wert, um die Gesundheitskosten in der Schweiz zu dämpfen.
Nach längeren Diskussionen zwischen den Fotografen, Reportern und Sergeant Moshiur geben wir das Vorhaben, doch noch irgendwie an die Grenze zu fahren, auf. Stattdessen verordnet uns Moshiur Bettruhe.
Leider ist es anders gekommen…
Fremdbestimmt in Lalmonirhat
Nach ein paar Stunden im Zimmer des Guesthouses, ist mir bereits langweilig. Helal schläft, mein Knie schmerzt, ich habe keine Internetverbindung und gestern habe ich im Bus auch noch das Telefon verloren. Ich fühle mich völlig von der Aussenwelt abgeschnitten.
Für die nächsten drei Tage ist wieder landesweit Hartal (Streik) angesagt. Da diese oft von Gewalt begleitet werden, verbietet mir Moshiur in diesen Tagen das Guesthouse zu verlassen und wenn, dann nur in Begleitung. Mein Knie eitert zwar immer noch und schmerzt beim Treppensteigen oder dem Gang auf die Toilette (Bangla Style = Loch im Boden), sonst fühle ich mich aber gut und entdeckungsfreudig. Da das Guesthouse, in welchem wir inzwischen untergebracht sind, etwas abseits liegt, ist es schwierig wegzukommen, besonders weil erstens Moshiur’s Chef Aslam mein Zimmernachbar ist und ich auf dem Weg in die Stadt an Moshiur’s Polizeikabäuschen vorbeigehen muss. Und so sitze ich unserem Guesthouse und schaue zu, wie die Tage vergehen, während Helal beduselt von Schmerzen und Medikamenten die meiste Zeit schläft. Zwischendurch bringen mir die Jungs vom Guesthouse etwas zu essen und Wasser. Mit ein paar Kreiden, die ich auf der Dachterrasse gefunden habe, bemale ich mit der Erlaubnis des Guesthousebesitzers die Wände meines Zimmers.
Aslam, Moshiur’s Chef, leiht mir schliesslich seinen Dongle aus, damit ich eine Internetverbindung auf meinen Laptop herstellen kann. Am Abend sitzt er zudem oft mit mir und Helal zusammen und diskutiert das politische Geschehen in Bangladesch. Leider verfallen die beiden dabei meist in ihre Muttersprache, so dass ich der Diskussion nicht wirklich folgen kann. Aslam spricht aber auch ein wenig französisch, da er einige Zeit für die UN Friedensmission im Kongo tätig war. Bangladesch stand Ende 2013 hinter Pakistan an zweiter Stelle der Länder, die am meisten Leute in die UN Friedensmission entsenden. Die bangladeschischen Polizisten sind bei der UN sehr beliebt, da sie professionell arbeiten und Erfahrungen in Krisensituationen aus dem eigenen Land mitbringen. Für die Polizisten ihrerseits lohnt sich ein solcher Einsatz vor allem finanziell. Sie verdienen bei einem Friedenseinsatz um ein Vielfaches mehr als zu Hause in Bangladesch.
Für Abwechslung während dem verletzungsbedingten «Out» sorgen auch die Besuche von Moshiur, der fortan seine Pausen bei mir im Guesthouse verbringt. Einmal bringt er gar seine Tochter Roshni mit, damit wir zusammen auf der Dachterrasse spielen können. Kommt Moshiur alleine spazieren durch die Mangoplantage neben dem Guesthouse (leider sind die Früchte zu dieser Jahreszeit nicht reif) oder wir sitzen in meinem Zimmer und plaudern. Ich bin überrascht, wie offen und kritisch er über die Arbeit bei der Polizei, die politische Situation und die bangladeschische Gesellschaft spricht. Einmal nimmt mich Moshiur mit in die Police Line, die normalerweise für Besucher tabu ist. Die rund 400 Polizisten und Polizistinnen, die hier wohnen, profitieren von vergünstigten Mietzinsen und kostenlosen Mehl- und Reisrationen. Moshiur und seine Familie ziehen es vor ausserhalb der Police Line zu wohnen. Sie zahlen so zwar eine höhere Miete, geniessen dafür aber mehr Privatsphäre. Die Reis- und Mehlrationen können sie trotzdem abholen.
Für Polizisten sind die Streiks eine anstrengende und gefährliche Zeit, da sie fast ununterbrochen im Dienst stehen und die Situation jederzeit ausarten kann. Von der Regierung haben sie die Weisung mit harter Munition auf Demonstranten zu schiessen. Kugelsichere Westen und eine geladene Waffe gehören deshalb dieser Tage zur Grundausstattung eines Polizisten. Moshiur gefällt die harte Gangart der Regierung nicht. Er hofft, dass er seine Waffe nicht gebrauchen muss.
Immer öfter sind Helal und ich auch bei Moshiur’s Familie eingeladen und auch Nurul, der Besitzer des Guesthouses, nimmt uns mit nach Hause. Das sind zwar alles sehr nette Gesten, aber für uns sind diese Besuche auch anstrengend. Helal, hat immer noch starke Schmerzen und die Medikamente machen ihn müde. Ihm wäre es wohler im Gueshouse. Und ich komme mir vor wie ein Puppe, wenn ich wiedereinmal in einen Sari gesteckt werde, meine Hände mit Henna verziert bekomme oder meine Haare zu Zöpfen geflochten erhalte. Zusätzlich werde ich nonstop gefüttert. Dabei möchte ich doch eigentlich draussen ein wenig umsehen und bewegen. Aber was auch immer ich sage, wird überhört oder überstimmt. Ich fühle mich wie ein Kleinkind, das nichts selbst bestimmen kann, da alle anderen scheinbar besser wissen, was gut für es ist. Irgendwann kann ich immerhin durchsetzen, dass man mir ein Fahrrad gibt. Ich rieche die Freiheit… doch als Moshiur davon erfährt, organisiert er sogleich zwei Aufpasser, die mich auf meinen Touren beschützen sollen, darunter der dauerquasselnde Dorflehrer. Zweimal gelingt es mir, unbehelligt aus dem Guesthouse davonzuschleichen und mit dem Fahrrad ein paar Kilometer aus Lalmonirhat rauszufahren. Sobald ich aber anhalte um mit einer ausgeliehenen Kamera ein Foto zu schiessen, hüpfen nur ein paar Sekunden später mindestens zehn Kinder vor der Linse auf und ab, während Frauen und Männer aus dem Hintergrund zuschauen.
Der gesprächige Lehrer stellt mich dem Schulvorsteher vor und prompt lädt mich dieser ein, die Schule zu besuchen. Er führt mich in jede Klasse und stellt mich seinen Schülern vor. Kaum betreten wir ein Klassenzimmer stehen die Schüler auf und grüssen den Schulvorsteher im Chor. Dieser dirigiert die Kinder ein paar Mal auf und ab oder fordert sie auf eine Art Schlafposition einzunehmen (Kopf auf die verschränkten Arme gelegt). Am Schluss müssen die Kinder mehrmals in einem bestimmten Rhythmus in die Hände klatschen, um mir so für meinen Besuch zu danken. Mir ist das ganze Tamtam eher peinlich und ich bin froh, als wir bei den ältesten Schülern ankommen und wir die Runde abschliessen können. Interessant war, dass in jeder Klasse mehrere Schüler sitzen, deren Väter als Arbeitsmigranten im Ausland arbeiten. Gemäss dem Bureau of Manpower, Employment and Training (Bmet) der bangladeschischen Regierung sind alleine im Jahr 2012 über 600’000 Bangladeschis für einen Job ins Ausland gegangen. Im selben Jahr haben die Arbeitsmigranten rund 11,4 Milliarden Franken nach Hause geschickt und so einen bedeutenden Beitrag zur Unterstützung der Wirtschaft geleistet.
Regelmässig müssen Helal und ich in der Klinik vorbei, um die Wunden zu säubern und einen neuen Verband anzulegen. Für Helal sind diese Besuche eine Tortur. Ich kann richtig mitfühlen, wenn er vor Schmerzen stöhnend auf dem Schragen liegt. Während ich keine Probleme hatte beim Eid Festival zuzusehen, wie Kühe geschlachtet werden, genügt ein Blick auf das Loch in Helal’s Knie, um ein flaues Gefühl in meiner Magengegend entstehen zu lassen.
Nach über einer Woche sind wir beide soweit genesen, dass wir die Rückreise nach Dhaka antreten können. Wegen der engen Sitzverhältnisse kommt der Bus nicht in Frage. Da den Leuten zwischen zwei Hartals nur gerade zwei Tage bleiben um zu reisen, sind die Liegewagen im Zug ausgebucht. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als einen Sitzplatz zu buchen.
Sean, Moshiur’s «Mädchen» für alles holt uns am Morgen der Abreise mit dem Auto von unserem Guesthouse ab. Moshiur bildet ihn zum Fahrer aus. Im Moment lassen seine Fahrkünste aber noch zu wünschen übrig. Er fährt ruppig und verpasst auf dem Weg zum Bahnhof die richtige Abzweigung. Wir enden in einer schmalen Strasse, in der es wegen entgegenkommenden Fahrradrickshaws plötzlich kein Weiterkommen mehr gibt. Moshiur, der mit seiner Familie auf dem Töff gefolgt ist, lässt seinen Töff stehen und übernimmt das Steuer. Er brüllt die Rickshawfahrer an und rammt einen von ihnen, als dieser nicht schnell genug Platz macht. Es folgt ein lautstarkes Gezanke zwischen den Rickshawfahrern und erst als Moshiur aussteigt und in polizeilicher Manier für Ordnung sorgt, wird es ruhig. Mir ist der Aufruhr und der Auftritt von Moshiur peinlich und ich versinke tief im Rücksitz des Wagens. Als Privatperson ist Moshiur sehr witzig und liebenswert, als Polizist zeigt er aber scheinbar gerne wer der Chef auf dem Platz ist. Wir schaffen es gerade noch rechtzeitig zum Bahnhof. Mir ist es recht, denn so bleibt die Abschiedsszene kurz. Ganz anders gestern, als ich mich von Juthi, der Haushaltshilfe in Moshiur’s Haus, verabschiedet habe. Die junge Frau ist mir gegenüber sehr anhänglich und auch ich habe sie in mein Herz geschlossen. Sie hat ein herzhaftes Lachen und legt zwischen ihren Aufgaben immer wieder kleine Tanzeinlagen ein. Als ich ihr jedoch Adieu sage, brechen plötzlich alle Dämme. Sie klammert sich an mir fest, weint hemmungslos und bittet mich, sie mit in die Schweiz zu nehmen. In ihren Augen sehe ich etwas, das mich traurig macht. Es ist die Hoffnung auf ein anderes Leben und ich weiss, dass ich ihr diesen Wunsch nicht erfüllen kann. Nicht zum ersten Mal realisiere ich, dass hinter der fröhlichen Fassade mancher Leute hier, Sehnsüchte und unerfüllte Träume lauern. Für viele von ihnen ist das Leben seit ihrer Geburt vorgezeichnet. Sie haben nicht die Ausbildungs- und Wahlmöglichkeiten wie wir sie in der Schweiz kennen. Treffen sie einen Westler projizieren sie plötzlich ihre Träume und Hoffnungen in diese Person. Ich nehme Juthi in meine Arme, mehr kann ich leider nicht für sie tun.
Die 14-stündige Zugfahrt verbringen Helal und ich grösstenteils schweigend. Die letzten paar Tage waren schwierig für uns beide. Wir sind enttäuscht, dass wir unserer Arbeit in Lalmonirhat nicht wunschgemäss nachgehen konnten. Helal macht sich zudem bestimmt Sorgen um seine Genesung. Ich hatte deshalb oft ein schlechtes Gewissen, wenn ich alleine oder mit Moshiur’s Familie auf kleine Erkundungstouren ging, während er weiterhin ans Bett gefesselt war. Doch mein egoistisches Ich wurde zunehmend ungeduldig und hatte manchmal genug davon, an Helal’s Bett zu sitzen, Kissen zu richten und Wasser zu reichen. Obwohl ich weiss, dass materieller Schaden nicht so schlimm ist wie körperlicher, wurde mir in den vergangenen Tagen die Bedeutung des Verlusts meiner Kamera erst so richtig bewusst. Auch jetzt als ich die Landschaft Bangladesch’s am Zugfenster vorbeiziehen sehe, fühle ich mich innerlich zerrissen. Das Land ist so unglaublich schön. Dieses Grün und dieses Licht… einfach unbeschreiblich. Ich bin dankbar, dass ich dies erleben darf und sauge alles in mir auf. Gleichzeitig könnte ich weinen, da ich es nicht mit der Kamera festhalten kann. Wer weiss, ob und wann ich jemals hierhin zurückkehren kann. Ohne Kamera habe ich das Gefühl, dass ich meine Zeit in Bangladesch verschwende.
Und so stehen plötzlich unsere eigenen Sorgen und Frustrationen zwischen mir und Helal während wir eingeklemmt zwischen anderen Reisenden und ihrem Gepäck (inklusive lebendiger Hühner) im Zug nach Dhaka sitzen. Müde kommen wir kurz vor Mitternacht an. Der hinkende Bangladeschi und seine weisse Begleiterin geben wohl ein komisches Bild ab auf dem langen Perron des Kamalapur Bahnhofs. Kurz bevor wir den Ausgang des Bahnhofs erreichen, fährt ein Gepäckwagen von hinten in uns hinein und lassen Helal vor Schmerz aufstöhnen. Es ist das «passende» Ende einer verkorksten Reise, bei der alles anders gekommen ist als geplant.
Helal wird von einem Freund erwartet und nach Hause begleitet. Ich besteige eine Fahrradrickshaw. In ein paar Stunden beginnt der nächste Hartal. In diesen Nächten kann so ziemlich alles passieren. Zum Glück scheint meine Pechsträhne beendet und ich gelange sicher nach Hause.
Bilder von Menschen aus Lalmonirhat und Umgebung, die ich mit ausgeliehenen Kameras von Freunden gemacht habe:
Nachtrag: Der Arzt in Dhaka diagnostiziert bei Helal ein gebrochenes Fussgelenk. Und auch das Knie muss genäht werden. Nach zwei Monaten ist Helal endlich wieder auf den Beinen. Ich besuche ihn während seiner Genesungsphase mehrmals zu Hause und unsere Freundschaft erholt sich vom zwischenzeitlichen Tief. Ich bin drei Wochen ohne Kamera. Durch den Kurier Service der Schweizer Botschaft kann ich meine alte Kamera einfliegen lassen, doch ich merke schnell, dass das Fotografieren damit limitiert ist. Deshalb vertraue ich meine kaputte Kamera schliesslich einem lokalen Mechaniker an (in Bangladesch gibt es kein Nikon Service Center). Er flickt sie soweit zusammen, dass ich sie wieder einsetzen kann. Aber das Gehäuse bleibt unstabil und ein paar andere Mängel können nicht behoben werden. Ich muss mir früher oder später eine neue Kamera anschaffen. Wer eine junge Fotojournalistin unterstützen möchte, kann sich deshalb gerne bei mir melden :-).
Weitere Berichte aus Lalmonirhat:
Grenzerfahrungen / Durga Puja auf dem Land / Bangladesch trocknet aus
Die Schweizer Journalistenschule MAZ und die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA bieten jedes Jahr einigen jungen Journalisten und Fotografen die Chance, für ein paar Monate auf Redaktionen in Ländern des Südens zu arbeiten. Im Rahmen dieses Projekts habe ich vom 19. September 2013 bis am 17. Januar 2014 für die Zeitung «The Daily Star» in Dhaka, Bangladesch, fotografiert. Was ich dabei erlebt habe, findet Ihr in diesem Blog unter der Rubrik Bangladesch. Meine Beiträge sowie jene von meinen Kollegen in anderen Ländern könnt Ihr auch hier verfolgen.
< Das Leben geht weiterBangladesch trocknet aus >
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