«Wir sind da», die fremde Stimme dringt wie durch Watte an mein Ohr. Als ich die Augen öffne, steht der Buskondukteur über mir und bedeutet mir mit einer Handbewegung auszusteigen. Hastig suche ich meine Sachen zusammen und stolpere auf die Strasse. Dort liegt bereits meine Tasche. Etwas verloren schaue ich mich um. Ich bin in Kolkata.
Ich entscheide mich aufs Geratewohl für eine Richtung und laufe los. Am Ende der Strasse biege ich nach rechts in eine leere Gasse ab. Vorbei an einem heruntergekommenen Hotel. Nach links entlang einer langen Mauer. Was sich wohl dahinter verbirgt? Plötzlich Läden, Restaurants, Menschen. Über den Strassen hängen Lichterketten. Bald ist Diwali, das wohl wichtigste Fest der Hindus. An den folgenden Kreuzungen biege ich zweimal nach links ab und komme so auf die Strasse zurück, wo ich vorhin ein paar Hostels gesehen habe. Ein Mann mit vom Betel rot gefärbten Zähnen sieht seine Chance auf eine Kommission und läuft mir nach. «You need room?» «Danke, ich kann alleine für mich schauen.» Doch der Mann lässt nicht locker. Er läuft jetzt ein paar Schritte vor mir: «Come I show you». Ich versuche an ihm vorbeizukommen, aber flink wie ein Wiesel versperrt er mir den Weg. «Not expensive. With Wi-fi and hot water. Only 700 Rupees.» «Zu teuer», entgegne ich. «I understand. More cheap I show you no problem.» Und damit biegt er in die Seitengasse ab, die ich sowieso schon angepeilt habe. Vor einem alten Haus bleibt der Schlepper stehen: «Here, very nice and very cheap». Hastig geht er die Treppe hoch zur Rezeption. und schaut mit seinem breiten, roten Lächeln zu mir runter: «Come Madam, you see nice room». Nach einem Moment des Zögerns folge ich ihm. Ich bin zu müde und nicht in der Stimmung mich auf Diskussionen mit ihm einzulassen. Das Zimmer ist okay und der Preis stimmt nach kurzer Verhandlung ebenfalls. Ich bleibe.
Ich schliesse die Tür und lasse mich aufs Bett fallen. Ich bin in Kolkata. Doch meine Gedanken und meine Seele sind in Dhaka, Bangladesch, hängengeblieben. Vor meinem inneren Auge spielen sich noch einmal die Abschiedsszenen der letzten Tage ab. Eine Träne rollt langsam über meine Wange. Ich wische sie ab und setze mich auf. Jetzt nur nicht weinen. Ich weiss, die ersten Stunden in einer neuen Stadt sind immer schwierig. Ich gebe mir einen Ruck und gehe raus. Kolkata wartet.
An der Rezeption studiere ich einen Stadtplan und versuche mir das Gröbste einzuprägen. Sicherheitshalber mache ich noch ein Foto. Das Victoria Memorial sollte nicht allzuweit entfernt sein. Ich muss bloss hinten raus, dann links, rechts, links abbiegen bis ich zu einer grossen Strasse komme. Ich überquere die Strasse und gelange in einen riesigen Park, den Maidan. Es ist Sonntag. Die Rasenfläche ist übersät mit Gruppen junger Männer, die Cricket oder Fussball spielen und Familien, die ein Picknick veranstalten. Weit unten sehe ich die Spitzen des Victoria Memorials, aber plötzlich scheint mir der Maidan interessanter. Die Sonne steht bereits tief und überzieht alles mit einem honiggelben Schimmer. Ich mache Fotos und komme mit ein paar Jungs ins Gespräch. Kolkata hat mich.
Es ist bereits dunkel als ich den Park verlasse und der Strasse nach Norden folge. In der Nähe des New Market kaufe ich an einem Strassenstand etwas zu essen. Später, ich mache gerade ein paar Bilder vom nächtlichen Treiben rund um den Markt, spricht mich ein junger Mann an: «Come with me. I want to show you something». Mir ist sofort klar, dass er mich zu einem Shop locken will und lehne deshalb dankend ab. «Pleeeeaaaase!», der Mann fleht mich an. Ich sei nicht in Einkaufsstimmung, lasse ich ihn wissen. «No problem. You come and see. If you like you buy if not no problem». Die Aussicht für eine Weile abzusitzen, ein bisschen zu schwatzen und hoffentlich einen Tee offeriert zu bekommen, lassen mich dem Unbekannten schliesslich folgen. «Wie heisst du?», frage ich ihn. «Alam». Und damit beginnt eine neue Freundschaft.
Alam merkt schnell, dass ich ihn nicht umsonst gewarnt habe, seine Zeit zu verschwenden. Er zeigt mir Ringe, Armreifen, Tunikas und Saris. Dann kommt der Tee. Kaufen tue ich trotzdem nichts. Doch Alam bleibt freundlich, setzt sich nun neben mich und fängt an zu plaudern. Als ich von meiner Leibspeise erzähle, drückt er einem Jungen ein bisschen Geld in die Hand und schickt ihn fort. Wenig später steht der Bub mit zwei Tonschälchen Firni (eine Art Milchreis) vor uns. Ich bin angekommen in Kolkata.
Am nächsten Morgen begebe ich mich zur East Indian Railway Company, um mir ein Ticket nach Varanasi zu besorgen. Vier ältere Herren sitzen hinter zwei Schaltern (hier wird das Vier-Augen-Prinzip hochgehalten) und arbeiten fein säuberlich nach indischer Beamtenmanier (sprich langsamer geht’s nimmer). Als ich nach fast drei Stunden endlich an der Reihe bin, werde ich allerdings gleich wieder weggeschickt, als ich ihnen die Kopie meines Passes vorlege. Die Herren wollen das Original, aber das liegt wie immer im Guesthouse. Mein Einwand, dass ich mit der Kopie sowohl in Delhi, Lucknow, Varanasi als auch in Bangladesch noch immer ein Ticket erhalten habe, lässt sie kalt. Auch die Tatsache, dass ich gerade fast drei Stunden für nichts gewartet habe, ist ihnen egal. Ich werde wütend und versuche mir mit ein paar Brocken Hindi Gehör zu verschaffen. Doch sie antworten nur: «Wir arbeiten nach einem System und du hast dich gefälligst daran zu halten». System?! Naja, offenbar ist es ein System, wenn vier Beamte nicht mehr als sechs Kunden in einer Stunde abfertigen können. Dazu muss man wissen, dass die Kunden, bevor sie an den Schalter kommen, bereits ein Formular ausfüllen müssen mit Name, Zugnummer, Reisedatum, Klasse etc. Die Beamten müssen dann lediglich die Daten in den Computer eintippen und das Ticket drucken. Als ich am nächsten Tag mit Pass wiederkomme hat es zwar weniger Leute, die anstehen, dafür ist aber auch nur ein Schalter geöffnet. Die Wartezeit verkürzt sich damit auf rund zwei Stunden. Na tja, auch das ist Indien. Kolkata testet mich.
Ausserhalb der Beamtenbüros ist Indien und insbesondere Kolkata zum Glück viel geschäftiger. Ich laufe durch die Gassen von Bara Bazar und bin überwältigt. Tausende von Menschen sind in Bewegung. Fahrräder so vollbepackt mit Waren, dass man das Fahrrad darunter eigentlich nur noch erahnen kann, werden durch die zwischen den Passanten durchgeschoben. Träger mit schweren Lasten auf dem Kopf bannen sich im typisch wippenden Gang und «side, side»-Rufen einen Weg durchs Chaos. Ich drücke mich an die Hausmauer und mache ein Foto. Doch es ist schier unmöglich in diesem Strom standhaft zu bleiben. Egal, ich lasse mich mitreissen. Eine solche Dichte habe ich bis jetzt nur in Old Dhaka erlebt.
Nicht weniger hektisch geht es auf dem Blumenmarkt unter der Howrah Brücke zu und her. Ergänzt wird das Gedränge hier mit den Farben und Düften der Blüten. Ein Totalangriff auf meine Sinne. Im Handwerkerviertel Kumartuli ist es dagegen im Moment eher ruhig. Die vielen Werkstätten, in denen Götterstatuten hergestellt werden, liegen ruhig und verlassen da. Es scheint als wäre bereits alles für die morgige Kalipuja parat. An fast jeder Strassenecke stehen Altäre mit der Figur der schwarzen Göttin Kali, der Schutzpatronin Kolkata’s. Kalipuja fällt mit dem Lichterfest Diwali zusammen. Während man im restlichen Indien an diesen Tagen Lakshmi, der Göttin für Glück und Reichtum huldigt, wird in Bengalen Kali, die Göttin des Todes, der Zerstörung aber auch der Erneuerung, verehrt. Der ganze Glitzer und Schmuck der Kali-Statuen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gegend rund um Kumartuli/Sovabazar eher arm ist. Kinder spielen nur spärlich oder gar nicht bekleidet auf der Strasse. Für die Besucherin gibt es weniger freundliche Blicke als anderswo; alle scheinen mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt. Als mir Alam später erzählt, dass sich in dieser Gegend das Rotlichtviertel befindet, macht das Sinn.
Ich werde an Kalipuja nicht mehr in Kolkata sein. Leider. Denn Kolkata ist mir in den letzten drei Tagen ans Herz gewachsen. Die lebendige Stadt war das richtige Mittel, um über den Trennungsschmerz von Bangladesch hinwegzukommen. Und sie ist mehr als das, Kolkata ist eine Inspiration. Ich werde das Gewusel in den Strassen, die Farbenpracht (nicht nur) auf dem Blumenmarkt, die entspannten Sonntagnachmittage auf dem Maidan, die goldene Stunde, wenn die Sonne untergeht, die schier unendlichen Einkaufsmöglichkeiten (ja, bei den unzähligen Bazaren konnte am Ende nicht einmal ich widerstehen), die Abende mit Alam, welcher überigens nie wieder versucht hat, mir etwas zu verkaufen, und mein tägliches Schälchen Firni vermissen. Ich liebe Kolkata.
< Das beschissene Gefühl der AngstJagdsaison >
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hi….after a long time………nice to comment you…