Vor ein paar Jahren hat mir ein malaysischer Fotograf gesagt: «Wenn du denkst, Indien sei arm, dann gehe nach Bangladesch und du wirst sehen, was Armut bedeutet». Wahrscheinlich hat er recht. Natürlich leben auch in Indien Menschen in Slums, natürlich begegnet man auch dort Bettlern und Strassenkindern und trotzdem empfand ich das Elend in Dhaka als noch grösser. Manchmal musste ich wegschauen, weil ich den Anblick nicht ertragen konnte. Ich wusste nicht, dass Menschen so verkrüppelt überhaupt noch lebensfähig sind. Es sind zum Teil nicht viel mehr als ein paar zuckende Gliedmassen, die der Hitze und dem Staub im Strassengraben trotzen, während der Verkehr an ihnen vorbeirollt.
Ich werde oft gefragt, wie man als Westler die Konfrontation mit der schier grenzenlosen Armut aushält. Manchmal kommen auch Vorwürfe, dass ich in solchen Ländern noch fähig bin, Glück und Freude zu empfinden. Eine Antwort fällt schwer. Die Gefahr ist gross, missverstanden zu werden. Wer noch nie in einem Drittweltland war, kann sich kaum vorstellen, wie es wirklich ist. Es gibt Situationen, die mich sprachlos, hilflos, ja beschämt zurücklassen. Im Alltag vor Ort lernt man aber, dass es eben Alltag ist. Jedenfalls für die Menschen dort. Es ist der Alltag, wie sie ihn nicht anders kennen und mit dem sie kämpfen, wie wir es auch bei uns manchmal tun. Es ist der Alltag, in dem sie Freud und Leid erfahren, wie auch wir es tun. Ein Alltag, den sie mit Familie, Freunden und Nachbarn teilen. Ein Alltag in dem auch mal Feste gefeiert werden.
Um dies zu realisieren, muss man sich dem Elend allerdings bewusst aussetzen. Die schlimmsten Momente erlebe ich, als ich der Armut durch eine Autoscheibe getrennt begegne. Wenn ein Kind mich mit traurigen, grossen Augen durch die getönten Scheiben anstarrt und dabei die Hand immer wieder zum Mund führt, bete ich, dass die Ampel bald auf grün wechselt. Und dafür schäme ich mich.
Bin ich hingegen zu Fuss, mit dem Fahrrad oder mit der Rickshaw unterwegs, kann ich viel besser mit der Situation umgehen, obwohl ich mich dann nicht verstecken kann und der Umgebung direkt ausgesetzt bin. Dadurch fühle ich mich weniger von den Einheimischen abgegrenzt, weniger ausgestellt. Ich bin unterwegs wie sie, gehe den gleichen Weg wie sie. Die Leute kommen zwar immer noch auf mich zu, aber nun mehr aus Neugierde und nicht (nur) weil sie betteln wollen. Wir können trotz Sprachbarrieren miteinander kommunizieren, können uns berühren und oft erhellt dann plötzlich ein Lächeln ein sonst ernstes Gesicht.
Der direkteste Weg zur Redaktion des Daily Star in Dhaka, wo ich während vier Monaten ein Praktikum als Fotojournalistin absolvierte, führt durch einen Slum entlang der Bahngeleise hinter dem Kawran Bazar. Als ich das erste Mal dieses Gebiet betrete, ist mir nicht bewusst, in was ich mich da hineinbegebe. Es war wie immer die Neugier, die mich antrieb, neue Wege auszuprobieren. Als erstes fällt mir der Dreck auf. Abfall überall und zwischendurch tote und lebendige Ratten. Nach einem Regenschauer wird es besonders schlimm. Der Boden verkommt zu einer schmierigen, braunen Masse. Mit dem Dreck kommt der Gestank, besonders dort, wo jeden Morgen der Fischmarkt stattfindet. Vor lauter Abfall realisiere ich erst gar nicht, dass hier auch Menschen leben. Dass die Plastikfetzen und Bretter links und rechts der Geleise ihre Behausungen sind. Für uns Westler ist es unvorstellbar, wie man in einer solchen Umgebung leben kann. Und der erste Instinkt ist, den Ort so schnell als möglich zu verlassen, besonders dann, als ein Passant mich warnt: «Pass auf, du befindest dich in einer heissen Zone». Doch ich gehe weiter. Ausweichen ist auch gar nicht möglich. Denn links und rechts reiht sich Hütte an Hütte, das Einzige was bleibt ist der Streifen mit den zwei Schienen in der Mitte. Und plötzlich nehme ich wahr, welch buntes Leben hier herrscht. Leute benutzen das Trasse, um möglichst effizient von A nach B zu kommen. Männer sitzen für einen Schwatz auf den Schienen, andere bieten in Körben Lebensmittel an, dazwischen spielen Kinder während ihre Mütter am Rand kochen und waschen. Im Hintergrund erheben sich die Bürotürme. Und in unregelmässigen Abständen rattert ein Zug vorbei und scheucht mich und die anderen für einen kurzen Moment auf die Seite.
Dieses Leben, dieser Alltag inmitten des Sumpfes löst viele sehr widersprüchliche Gefühle in mir aus. Ich bin traurig und wütend über die Ungerechtigkeit unserer Welt, gleichzeitig bin ich aber auch fasziniert zu sehen, wie anpassungsfähig Menschen sind. Wie sie sich in hoffnungslosen Situationen zu arrangieren wissen. Und ich bewundere alle, die es schaffen in all dem ihre Würde zu bewahren. Zum Beispiel eine Gruppe von Frauen, die sich vor ihren Hütten gegenseitig die Haare kämen und den Kopf massieren. Oder auch die Tatsache, dass ich selten jemanden in schmutzigen Kleidern sehe, obwohl die meisten wohl nur zwei oder drei Paar besitzen. Die erwähnten Frauen zeigen mir, dass wir Menschen im Grunde alle ähnlich sind, egal woher wir kommen oder wie reich wir sind. Am Ende geht es darum, uns gut zu fühlen und uns selbst und anderen zu gefallen sowie Freunde zu haben, mit denen man lachen und weinen kann. Diese Erkenntnis hilft mir, mit der Armut besser umzugehen. Gleichzeitig hinterfrage ich mich aber auch, ob ich damit nicht bloss versuche, mein schlechtes Gewissen schönzureden. Der Tatsache auszuweichen, dass ich nicht weiss, wie ich helfen kann.
Obwohl es der schnellste Weg ins Büro ist, laufe ich nicht immer durch den Slum. Denn auch wenn der erste Schock verarbeitet ist und ich inzwischen auch Positives wahrnehme, braucht es jedes Mal Energie sich dem Elend und den Menschen, die darin leben auszusetzen. Und selbst wenn ich mich für den Weg entlang der Schienen entscheide, tue ich dies nur selten mit der Kamera in der Hand. Nur an Tagen, an denen ich mich stark genug fühle, mache ich ein paar Fotos. Eineinhalb Jahre lang «verstaubten» diese Bilder auf meiner Festplatte. Ich wollte sie nicht ohne Begleittext online stellen. Aber um diesen Text zu schreiben, brauchte ich Abstand. Ich brauchte Zeit, um all die Eindrücke und widersprüchlichen Gefühle zu ordnen und zu formulieren. Auf die Frage «Ist das noch leben?» habe ich trotzdem keine abschliessende Antwort. Aus unserer oberflächlichen Perspektive müsste ich sagen «nein». Wenn ich aber die Umgebung ausblende und mir nur die Menschen und ihre täglichen Sorgen und Freuden anschaue, dann tendiere ich zu «ja». Denn es sind die gleichen wie bei uns, nur auf einem anderen Niveau. Somit steht mir nicht zu, ihr Leben als nicht lebenswert abzutun. Die Unsicherheit bei der Beantwortung der Frage rührt daher, dass diese Menschen keine Wahl haben und kaum Chancen auf eine Verbesserung ihrer Situation besteht. Klar, sie haben sich mit ihrer Lage arrangiert, lachen manchmal, aber würden sie so weiterleben, wenn sie die Wahl hätten? Sicher nicht.
Irgendwann kurz vor Weihnachten radle ich mit einem einheimischen Fotografen durchs nächtliche Dhaka. Auf der Tejgaon Brücke halten wir an und schauten schweigend runter auf die Geleise. Alles scheint dunkel und still als mein Freund plötzlich fragt: «Dort unten leben Menschen. Kannst du dir das vorstellen?». «Ja, ich weiss», ist meine knappe Antwort. Er kann nicht ahnen, dass ich manchmal alleine durch den Slum spaziere. Nach einer Weile sitzen wir wieder auf unseren Rädern und fahren weiter. Eine Träne rollt über meine Wange.
Die Schweizer Journalistenschule MAZ und die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA bieten jedes Jahr einigen jungen Journalisten und Fotografen die Chance, für ein paar Monate auf Redaktionen in Ländern des Südens zu arbeiten. Im Rahmen dieses Projekts habe ich vom 19. September 2013 bis am 17. Januar 2014 für die Zeitung «The Daily Star» in Dhaka, Bangladesch, fotografiert. Was ich dabei erlebt habe, findet Ihr in diesem Blog unter der Rubrik Bangladesch. Meine Beiträge sowie jene von meinen Kollegen in anderen Ländern könnt Ihr auch hier verfolgen.
< Shipyard – ein Fall für die SuvaBangladesch durch den Sucher >
Leave a reply