Die Fotografen des Daily Stars sind zwar sehr nett und witzig aber sie binden mich kaum in ihren Arbeitsalltag ein. Nachdem ich mehrmals von ihnen versetzt wurde, beschliesse ich, mich selbst zu organisieren. Ich schreibe eine E-Mail an die Fotojournalistenschule Pathshala und die Fotoagentur Drik. Ein paar junge Fotografen melden sich und zeigen sich interessiert an einem Treffen und einer eventuellen Zusammenarbeit. Einer von ihnen ist Samsul Alam Helal, ein ehemaliger Pathshala Student. Er schreibt, dass er für Übermorgen einen Trip in den Norden des Landes plant. Falls ich ihn begleiten möchte, soll ich doch am anderen Tag im Pathshala vorbeikommen. Bei unserem Treffen erklärt mir Helal mit wenigen Worten sein Vorhaben. Er scheint eher schüchtern und spricht leise. Ich habe deshalb Schwierigkeiten ihn zu verstehen. Am Ende unserer Unterhaltung weiss ich nur, dass er morgen mit dem Nachtbus in den Norden des Landes fahren wird. Dort will er während drei bis vier Tagen das Hindufestival Durga Puja in ländlicher Umgebung fotografieren und betreffend der Grenzproblematik zwischen Indien und Bangladesch recherchieren. Auch wenn die Informationen eher spärlich sind und ich Helal kaum kenne, sage ich spontan zu, sofern ich im Büro ein paar Freitage erhalte. Die Redaktionskollegen sind skeptisch mich mit einem fremden Mann ziehen zu lassen. Doch ich setze mich durch. Schliesslich will ich das Land erleben.

Helal im Studio, wo er seine bekannteste Arbeit (Love Studio) aufgenommen hat
Helal und ich verabreden uns am nächsten Tag, um die Bustickets zu kaufen. Als ich am ausgemachten Treffpunkt in Shahbag ankomme, zweifle ich plötzlich, ob ich Helal überhaupt erkennen werde. Bei unserem Treffen gestern auf dem Dach der Schule war es bereits dunkel und ich konnte deshalb nicht viel von Helal’s Gesichtszügen ausmachen. Eigentlich brauche ich mir wegen des Erkennens aber keine Sorgen zu machen. Als Westlerin bin ich für Helal unübersehbar. Mein zukünftiger Reisepartner führt mich in den gegenüberliegenden Park, wo wir erst mal einen Tee trinken. Wir tasten uns gegenseitig vorsichtig ab. Immer wieder entstehen Gesprächspausen, zum Teil sprachlich bedingt aber auch weil wir beide nicht so recht wissen, was wir sagen sollen. Ich wüsste nur zu gerne, was Helal von mir denkt und ob es ihm unangenehm ist eine Bideshi (Ausländerin) bei sich zu haben. Der Gedanke, dass ich die nächsten Tage von diesem «Fremden» abhängig sein werde, amüsiert und beunruhigt mich gleichermassen. Normalerweise bestimme ich den Ablauf einer Reise selbst. Doch jetzt bin ich plötzlich nur Mitläuferin während Helal die Organisation und Kommunikation übernehmen wird. Ob er sich der Verantwortung bewusst ist? Als Ausländerin ziehe ich immer und überall die Aufmerksamkeit der Leute auf mich, was als Fotojournalist nicht immer erwünscht ist. Könnte mich Helal falls nötig aus einer heiklen Situation befreien? Eine Antwort darauf, würde erst der Ernstfall liefern. Deshalb verdränge ich diese Gedanken lieber und konzentriere mich auf die positiven Aspekte. Denn diese Art zu reisen kann auch sehr (ent)spannend sein. Man weiss zwar nie, wie das Programm für den nächsten Tag aussieht, muss sich gleichzeitig aber auch um nichts kümmern.
Nach der Teepause beginnt unsere eigentliche Mission: Die Suche nach Bustickets. Wir fragen an verschiedenen Verkaufsstellen nach, doch die Tickets nach Lalmonirhat sind nicht überall erhältlich. So verlieren wir viel Zeit und haben, als wir die Tickets schliesslich haben, nur noch vier Stunden Zeit bis zur Abfahrt. Wenig Zeit, wenn man bedenkt, dass wir beide nochmals nach Hause müssen, um zu packen. Der Verkehr in Dhaka ist kurz vor dem Eid Festival besonders dicht. Mir bleiben gerade mal 30 Minuten, um meinen Rucksack zu packen.
Um sieben Uhr bin ich wieder an unserem Treffpunkt in Shahbag. Helal trifft zwanzig Minuten später und ohne Gepäck ein. Für ihn hat es nicht gereicht, um zu seinem Haus in Old Dhaka zurückzukehren. Per Telefon hat er einem Freund die Packliste durchgegeben und ihn gebeten, die Sachen so rasch als möglich nach Shahbag zu bringen. Mir ist es schleierhaft, wie wir so in einer Stunde den Bus erreichen sollen. Aber Helal bleibt ruhig und trinkt Tee. Ich tue es ihm gleich, schliesslich habe ich innerlich zugestimmt, Helal zu vertrauen und ihm die Führung zu überlassen.
Als Helal’s Tasche endlich eintrifft, wartet das nächste Problem. Fast alle CNGs (Autorickshaws) sind besetzt. Und jene Fahrer die frei sind, haben wegen dem Verkehrschaos kein Interesse in den Norden von Dhaka zu fahren. Doch wir haben Glück: Einer von ihnen erbarmt sich unser und nimmt uns mit… jedenfalls so weit, bis ihm das Gas ausgeht (CNG’s sind mit Erdgas betrieben). Glücklicherweise gelingt es Helal relativ schnell, ein anderes CNG zu organisieren. Doch als wir unterwegs einen weiteren Zwischenhalt einlegen müssen, um Helal’s Laptop in der Schule abzuholen, ist für mich klar, dass der Bus ohne uns abfahren wird. Helal aber meint, dass uns die Busgesellschaft vorher anrufen wird und er dann nochmals ein wenig Zeit herausschinden kann. Wenig später kommt der Anruf tatsächlich und wir erhalten Anweisungen wohin wir fahren sollen, um zuzusteigen. Wie wir die richtige Stelle irgendwo im Halbdunkeln am Strassenrand finden, bleibt das Geheimnis von Helal und dem CNG-Fahrer.
Es ist zehn Uhr. Der Bus hätte eigentlich vor eineinhalb Stunden abfahren sollen, aber irgendwie scheint dies hier niemanden zu stören. Um halb elf sind alle Passagiere an Bord und der Bus fährt ab. Oder zumindest die paar Meter bis der Stau anfängt. Im Stop-and-Go Modus kommen wir nur langsam voran. Es ist heiss und stickig. Die Deckenventilatoren fehlen entweder ganz oder funktionieren nicht richtig. Sie geben einzig ein lautes Surren von sich, wenn der Bus über eine Bodenwelle hüpft. Entnervte Passagiere reissen die Dinger von der Decke und werfen sie aus dem Fenster des fahrenden Busses. Auf den kurzen Strecken, auf denen es möglich ist, zu beschleunigen, wird zudem schnell klar, dass mit der Kupplung etwas nicht stimmt. Im Schritttempo fahren wir bis zum nächsten Parkplatz, wo wir alle aussteigen und auf einen Ersatzbus warten müssen. Mit noch mehr Verspätung nehmen wir die Fahrt im «neuen» Bus wieder auf. Doch immer wieder kommt der Verkehr zum totalen Stillstand. Und dann geht oft für eine oder mehr Stunden rein gar nichts mehr. Ich beobachte den Gegenverkehr. Lastwagen, die teils meterhoch mit Kies, Holz, Ziegeln oder Stahlrohren beladen sind. Und obendrauf sitzt oder schläft nicht selten eine Person. Auf den Ladeflächenen anderer Laster stehen dicht zusammengepfercht Kühe, die für das muslimische Opferfest Eid in die Stadt gefahren werden.

80 Kilometer in 8 Stunden… wir hätten auch das Fahrrad nehmen können.
Es ist bereits Tag als wir die Achtzigkilometer-Marke passieren. Acht Stunden für 80 Kilometer! Und rund 260 liegen noch vor uns. An einer der Raststätten machen wir eine Frühstückspause. Der volle Magen, die aufkommende Hitze und das Einatmen der Abgase machen mich schlapp. Den Rest der Reise verbringe ich mehr oder weniger schlafend. Eigentlich schade, denn die Landschaft mit ihren grünen Reisfeldern, den Flussläufen und kleinen Siedlungen ist wunderschön.
Nach 14 Stunden haben wir es geschafft und treffen in Lalmonirhat ein. Später holt uns Neon, ein alter Studienkolleg von Helal, im Guesthouse ab und bringt uns zu seinem frisch eröffneten Restaurant. Wir lernen einen Teil von Neon’s Familie und Freunden kennen und verbringen den Rest des Tages bei gemütlichem Zusammensein.
Leben im Niemandsland
Während Lonely Planet Lalmonirhat überhaupt nicht erwähnt, steht im Bradt Guide Folgendes: «Unless you’re a sociologist, international relations expert, or lover of quirky destinations, there isn’t much reason to stop in this backwater district, one of the last outposts of northern Bangladesh. But if you qualify as any of the above, you’ll be surprised to learn that this remote district is home to a fascinating tale of India-Bangladesh relations.»

Lalmonirhat ist eine grüne Stadt
Bangladesch ist im Westen, Norden und Osten von Indien umgeben. Im Südosten grenzt es auf etwa 200 Kilometer Länge an Myanmar und im Süden liegt der Golf von Bengalen. Ein über 4000 Kilometer langer Stacheldrahtzaun markiert die Grenze zwischen Indien und Bangladesch. Der Bau dieser Anlage kostete Indien mehrere Milliarden Franken. Er soll verhindern, dass illegale Einwanderer und Terroristen nach Indien gelangen. In umgekehrter Richtung soll der Schmugel von Medikamenten und Kühen unterbunden werden. Kühe sind in Indien heilig und dürfen nicht geschlachtet werden. Sie sind deshalb kaum etwas wert. Auf der anderen Seite der Grenze in Bangladesch verkaufen sie sich aber sehr gut. Doch der Zaun ist nicht dicht und einige der Soldaten der BSF (Indian Border Security Force) drücken gegen ein entsprechendes Entgelt auch mal die Augen zu. Nichtsdestotrotz ist mit den Grenzwächtern nicht zu spassen. Die Grenze zwischen Indien und Bangladesch gilt als eine der gefährlichsten der Welt. Menschenrechtsorganisationen sprechen von über 1000 Toten in den letzten 10 Jahren.
Erschwerend kommt hinzu, dass jenseits des Grenzzauns auf beiden Seiten historisch bedingte Enklaven, sogenannte Chitmahals, vom jeweiligen Nachbarland liegen. Die Bewohner dieser Enklaven leben völlig abgeschnitten von ihrem Heimatland und haben meist keinen Pass oder Identitätskarte, da weder ihr Heimatland noch das Land, in welchem die Enklave liegt, sie als Bürger anerkennt. Um die Enklave zu verlassen und in ihr Heimatland zu gelangen, müssen sie also gleich zweimal illegal eine Grenze überqueren. In vielen Enklaven gibt es zudem weder Strom noch frisches Trinkwasser, da beide Länder es nicht zulassen, Leitungen über das Gebiet des anderen Landes zu verlegen. Dohogram-Angorpotha, die größte bangladeschische Exklave, ist immerhin durch den Tin Bigha Korridor mit dem Mutterland verbunden.
Tod an der Grenze
Ich wusste zwar, dass Indien und Bangladesch nicht die besten Freunde sind. Wie kompliziert und absurd die Beziehung allerdings wirklich ist, wird mir erst jetzt, wo ich mich näher damit befasse, bewusst. In Lalmonirhat selbst merkt man wenig von der Grenzproblematik. Die Stadt ist ruhig, grün und friedlich. Nach dem Moloch Dhaka eine wohltuende Abwechslung.
Als ich allerdings am nächsten Tag zusammen mit Helal und Neon’s älterem Bruder, dem lokalen Reoporter Sazu, für Bilder vom Durga Puja Festival per CNG durch die umliegenden Dörfer fahre, erreicht uns plötzlich die Mitteilung vom Tod eines Bauers in der Nähe von Hatibandha. Er wurde scheinbar von der BSF (Indian Border Security Force) erschossen. Sazu versucht sofort weitere Informationen zum Vorfall zu erhalten, was wegen Netzwerkproblemen auf dem Land gar nicht so einfach ist. Wir kehren nach Lalmonirhat zurück, damit Helal und Sazu die weiteren Schritte planen können. Die Diskussionen werden alle in Bangla geführt, es bleibt mir also einmal mehr nichts anderes übrig als zurückzulehnen und meinen Begleitern zu vertrauen.
Am Sonntagmorgen nehmen wir nach dem Frühstück den Bus nach Hatibandha. Der Bus ist überfüllt. Während Sazu und Helal stehen müssen, darf ich mich auf eine speziell für Frauen reservierte Bank neben dem Fahrer setzen. Bequem ist es trotzdem nicht. Platz für die Beine gibt es kaum und bei jeder Bodenwelle drohe ich zwischen die Bankreihen zu fallen. In Hatibandha angekommen wird erst mal Tee getrunken. Um zu wenig Essens- oder Teepausen kann ich mich bei meinen Begleitern wahrlich nicht beklagen. Auch wenn beide extrem schlank sind, essen sie wie die Weltmeister. Während ich Mühe habe meinen Teller Reis zu bodigen, schaufeln Helal und Sazu gleich eineinhalb oder zwei Teller rein.

Bei der Familie des getöteten Bauern bin ich die Attraktion der Nachbarn und Verwandten. (Foto: Samsul Alam Helal)
Von Hatibandha aus fahren wir mit einem CNG zur Familie des getöteten Bauers. Die halbe Verwandt- und Nachbarschaft ist dort zusammengekommen und schaut mich verwundert an als wir vorfahren. Sofort wird ein Stuhl organisiert, auf den ich mich setzen muss. Ich komme mir sehr merkwürdig vor. Eigentlich geht es hier um das Leid einer Familie und nun ist die ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet. Helal befreit mich aus der blöden Situation und führt mich in ein nahegelegenes Haus, wo er mit einem bangladeschischen Grenzwächter spricht. Natürlich folgen mir die Leute auch hierhin. Sie bilden einen Halbkreis um das Bett auf dem wir sitzen und weitere Leute schauen zu den Fenstern und anderen Ritzen in den Wänden rein. Im Halbdunkel des Raumes erzählt der Soldat was vorgefallen ist. Sein Gewehr hat er dabei lässig über die Knie gelegt und immer wieder lehnt er sich im Schneidersitz nach vorn, um durchs Fenster zum indischen Grenzzaun zu schauen. Ein tolles Bild, doch leider wollen die Soldaten nicht fotografiert werden.
Helal fasst die Informationen des Soldaten für mich zusammen. Demnach ist dem Bauer ein Kalb entlaufen. Beim Versuch es einzufangen, ist er ins Kreuzfeuer der BSF geraten. Die BSF wird später sagen, der Bauer sei an Viehschmuggel beteiligt gewesen. Als wir später hinter das Haus des Bauers gehen, sehen wir die Mutterkuh und ihr Kalb. Was für ein sinnloser Tod. Doch leider eine alltägliche Gefahr, mit der die Bewohner an der Grenze leben müssen. Denn längst nicht alle, die die BSF tötet, gehören Schmugglerbanden an oder sind illegale Einwanderer. Immer wieder trifft es auch unschuldige Opfer, die zu nahe an oder über die Nulllinie gelangt sind. Die Nulllinie bezeichnet die eigentliche Grenze. Sie ist aber unsichtbar, da der Zaun gemäss einem Abkommen zwischen den beiden Ländern rund 135 Meter innerhalb der indischen Grenze liegen muss. Das führt zu weiteren absurden Situationen. So liegen einige Felder von indischen Bauern jenseits des Zaunes. Sie müssen also, um ihre Felder zu bestellen, täglich die Grenze passieren. Auf der anderen Seite arbeiten sie friedlich Schulter and Schulter mit den bangladeschischen Bauern, bevor sie am Abend durch ein Tor im Zaun wieder nach Indien schlüpfen.
Wir befinden uns immer noch bei der Familie des getöteten Bauers und werden nun zu seinen engsten Angehörigen vorgelassen. Die junge Ehefrau sitzt in einer einfachen Hütte. Als wir die Hütte betreten fängt sie an zu weinen. Ein paar Angehörige zerren zudem ihre beiden drei- und sechsjährigen Söhne zu ihr, damit wir ein möglichst dramatisches und herzzerreissendes Bild machen können. Doch ich fühle mich in diesem Moment einfach nur fehl am Platz und lasse meine Kamera in der Tasche. Auch dann, als ich draussen vor der Hütte die Mutter antreffe, die sich an der Wand festkrallt und ihren Kummer laut herausschreit. Als Sazu und Helal ihr Material gesammelt haben, lassen wir die Familie einen Moment alleine.
In einem nahegelegenen Dorf machen wir… genau… eine Teepause. Nach so viel Tee muss ich auf die Toilette. In Bangladesch hat aber nicht jedes Restaurant ein stilles Örtchen. Die meist männlichen Besucher, können ihr Geschäft schliesslich auch im Feld hinter dem Haus erledigen. Helal fragt bei einer Familie auf der anderen Strassenseite nach und sie erlauben mir ihre Latrine im Garten zu benutzen. Als ich fertig bin, hat sich die Neuigkeit bereits herumgesprochen. Die halbe Verwandschaft und die Nachbarn haben sich vor dem Haus versammelt, um die Ausländerin zu sehen.
Als der Leichnam des Bauern auf der Ladefläche eines Jeeps von der Obduktion in Lalmonirhat eintrifft, kehren wir nochmals zur Trauerfamilie zurück. Die Leiche ist in ein blutgetränktes Tuch gehüllt und dieses wiederum in eine blaue Plastikplache. So wird sie auf ein Bettgestell aus Holz, welches man nach draussen gebracht hat, gelegt. Irgendjemand öffnet den Sack und das Tuch, damit der Kopf und die Brust des Toten sichtbar werden. Ich halte mich im Hintergrund, werde aber von den Anwesenden in die erste Reihe gezerrt. Trotzdem verzichte ich auch hier auf ein Bild.
Es ist Zeit für uns zu gehen. Das CNG bringt uns zurück nach Hatibandha. Die Landschaft ist malerisch, verschwindet aber schon bald in der Dunkelheit. Zeit für jeden von uns den eigenen Gedanken nachzuhängen. Ich frage mich, was aus der Witwe und ihren beiden Söhnen wird. Wie kann sie für deren Lebensunterhalt sorgen? Und ich frage mich, ob es richtig war keine Fotos zu schiessen. Wäre es als Fotojournalistin nicht meine Aufgabe gewesen? Ja, werden wahrscheinlich die meisten sagen und ja, sagen später auch meine Kollegen vom Daily Star. Sie sagen mir, als Fotojournalist sollte man sich nie von den Emotionen hinter den Bildern und Geschichten einholen lassen, sondern bloss die News sehen. Ich bin auch dafür, dass solche Geschichten erzählt und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Doch ich finde nicht, dass man dafür eine Nahaufnahme vom blutüberströmten Leichnam und der weinenden Ehefrau und ihren Kindern zeigen muss. Hier in Bangladesch sieht man solche Bilder jedoch täglich in den Zeitungen.
Hätte ich mich mit den Leuten verständigen und mehr über die Hintergründe erfahren können, dann hätte ich mich wahrscheinlich getraut, das eine oder andere Bild zu machen. Aber so fühlte ich mich als Eindringling. Ich fragte mich ständig, wie ich, meine Mutter und Schwester uns gefühlt hätten, wenn damals an der Beerdigung meines Vaters plötzlich ein bangladeschischer Tourist Fotos gemacht hätte. Auch ohne Bilder auf der Speicherkarte nehme ich viel von diesem Tag mit.
Von der Polizei geweckt
Nach einer weiteren Stunde Busfahrt sind wir zurück in Lalmonirhat, wo Helal und ich in einem Teashop landen. Bei einer Tasse Tee lernen wir den Dorflehrer und einen Polizisten kennen. Sergeant Moshiur ist anfangs nicht sehr gut gelaunt. Er hat heute erfahren, dass er während Durga Puja und dem Eid Festival arbeiten muss. Die Unterhaltung mit uns heitert ihn sichtlich auf. Er fragt mich, ob ich den Flughafen von Lalmonirhat sehen möchte. Ich habe heute schon einmal von dem angeblich grössten Flughafen Asiens gehört, und bin deshalb nicht abgeneigt ihn mir anzuschauen. Als der Sergeant allerdings sagt: «Okay, let’s go!», bin ich etwas perplex. Eine Sightseeing-Tour bei Nacht macht wohl kaum Sinn. Doch der Sergeant lässt den Einwand nicht gelten. So machen wir uns zu viert (Helal, der Lehrer, der Sergeant und ich) im Auto von Moshiur auf zum Flughafen. Als Polizist werden ihm dort die Tore geöffnet und wir können eine Runde auf dem Runway drehen. Der Flughafen wurde von den Briten gebaut und von ihnen ihm zweiten Weltkrieg benutzt. Vom Flughafen geht es zum Bahnhof, von dort zur Police Line, wo rund 400 Polizisten wohnen, und schliesslich wieder zurück ins Zentrum. Der Lehrer verabschiedet sich von uns, doch für den Sergeant scheint die Nacht erst zu beginnen. Er fährt mit Helal und mir zum Park, wo ein Monument an die Freiheitskämpfer erinnert. Am liebsten würde er uns auch noch eine Moschee zeigen, aber zu der hat selbst der Herr Polizist nachts keinen Zutritt. Dafür nimmt er uns mit zum Gefängnis. Vom Dach des Hauses des Gefängnisdirektors können wir die Anlage überblicken. Der Gefängnisdirektor lädt uns für einen Tee in seine Wohnung ein. Doch ich merke, wie Helal müde wird und bitte den Sergeant uns zum Guesthouse zu fahren. Beim Abschied versucht er erfolglos meine Telefonnummer zu erhalten. Als Polizist weiss er sich aber auch anders zu helfen. Am nächsten Morgen schickt er einen seiner Untergebenen in unser Guesthouse, um uns für eine Tasse Tee in seinem Büro abzuholen. Das ist doch mal was anderes, wenn am Morgen plötzlich ein Polizist in Vollmontur vor der Hoteltüre steht und einen abführt.
Eigentlich wollten wir noch eine Nacht länger in Lalmonirhat bleiben, doch wir haben kein Geld mehr. In der ganzen Stadt (immerhin über 55’000 Einwohner) gibt es gerade mal einen Bankautomaten und dieser funktioniert momentan nicht. Wir müssen also nach einem Ausflug zu einer Durga Puja Feier in Moghulhat noch am selben Abend abreisen. Obwohl wir nur kurze Zeit hier waren, haben wir ein paar Freundschaften geschlossen. Entsprechend stressig wird der Abschied. Wir trösten uns damit, dass wir hoffentlich schon bald wiederkommen werden. Falls es die politische Situation zulässt, wollen Helal und ich Anfang November für Kali Puja wieder nach Lalmonirhat fahren. Denn dann ist es den Leuten auf beiden Seiten der Grenze erlaubt, an den Grenzzaun zu gehen und mit ihren Verwandten und Freunden auf der anderen Seite zu sprechen (Leider kommt alles anders… siehe Bericht: «Pechsträhne in Lalmonirhat»).
Die Rückreise mit dem Nachtbus dauert nur elf Stunden. Vor Dhaka kommt es aber wieder zum Stau. Dieses Mal weil tausende von Leuten die Stadt fürs Eid Festival verlassen und in ihre Dörfer zurückkehren. Die Busse, die uns entgegenkommen sind bis aufs Dach mit Menschen vollgepackt. Auch wenn das Busfahren in Bangladesch als ziemlich gefährlich gilt (schlechte Strassen, alte Busse und verrückte Fahrweise), liebe ich es. Ich empfinde es als entspannend in die alten Sitze zu sinken und sich allem was kommen mag, einfach hinzugeben, während draussen die Landschaft vorbeirauscht. Freiheit total…
Die Schweizer Journalistenschule MAZ und die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA bieten jedes Jahr einigen jungen Journalisten und Fotografen die Chance, für ein paar Monate auf Redaktionen in Ländern des Südens zu arbeiten. Im Rahmen dieses Projekts habe ich vom 19. September 2013 bis am 17. Januar 2014 für die Zeitung «The Daily Star» in Dhaka, Bangladesch, fotografiert. Was ich dabei erlebt habe, findet Ihr in diesem Blog unter der Rubrik Bangladesch. Meine Beiträge sowie jene von meinen Kollegen in anderen Ländern könnt Ihr auch hier verfolgen.
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Interessante Zeit, die du gerade verbringst. Und deine Texte lassen uns daran teilhaben. Danke, ist super!