Vor zwei Jahren musste ich Bangladesch von einem Tag auf den anderen verlassen, da mein Visum nicht verlängert wurde. Überzeugt, dass ich nach ein paar Wochen in Indien mit einem neuen Visum wieder einreisen kann, liess ich die Hälfte meines Gepäcks in Dhaka zurück. Hätte ich gewusst, dass daraus nichts wird, dass mein Visumsantrag sowohl in Delhi als auch in Kathmandu abgelehnt wird, ich hätte wohl bewusster Abschied genommen. Doch nun blieb nichts als das Gefühl etwas Unvollendetes zurückgelassen zu haben. Die Tür war hinter mir zugeschnappt und ich hatte keinen Schlüssel, um sie wieder zu öffnen.
Fast zwei Jahre voller Sehnsucht nach diesem kleinen, verrückten Land und seinen zum Teil noch verrückteren aber liebenswerten Menschen sind seither vergangen. Und nun stehe ich kurz davor einen erneuten Versuch Richtung Bangladesch zu starten. Doch meine Vorfreude wird jäh getrübt. Kurz vor meiner Einreise werden innerhalb weniger Tage zwei Ausländer auf offener Strasse erschossen. Botschaften diverser Länder passen sofort ihre Reisehinweise an, Reisegruppen canceln ihre geplanten Trips und das australische Cricket Nationalteam lässt ein Spiel gegen Bangladesch sausen. Über die Täter und deren Motiv wird währenddessen spekuliert. Ist es der IS oder ein böses Spiel der Opposition, um dem Ruf der Regierung zu schaden? Oder ist es gerade umgekehrt und die regierungstreuen Anhänger versuchen der Opposition für etwas die Schuld zuzuschieben, für das sie im Hintergrund selber die Fäden ziehen? Muss mit weiteren Angriffen auf Ausländer gerechnet werden? Es sind Fragen auf die es keine oder nur sehr vage Antworten gibt.
Meine Freunde in Dhaka schreiben, dass sie um meine Sicherheit besorgt seien und ich mich mit äusserster Vorsicht bewegen müsste. Dass diese Aussagen von anderen Fotografen und Journalisten stammen, mit denen ich vor zwei Jahren während der angespannten Zeit rund um die Wahlen zusammengearbeitet habe und die deshalb wissen, dass ich nicht besonders ängstlich bin, verunsichert mich. Damals wurden vollbesetzte Busse und Autorickshaws (CNG) in Brand gesetzt, selbstgebastelte Bomben auf unschuldige Menschen geworfen und jede Woche aufs Neue Ausgangssperren und Blockaden ausgerufen (s. Ein Land gerät ausser Kontrolle und Marsch für die Demokratie). Einen erhöhten Puls ja, aber Angst hatte ich damals selten. Denn ich fühlte mich nicht als Zielgruppe der Angriffe. Hätte ich in einem der Busse gesessen, der angezündet wurde, wäre das einfach «bad luck» gewesen. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Doch nun sehe ich mich als Vertreterin der westlichen Welt plötzlich als wandelnde Zielscheibe.
Ins Vertrauen vertrauen
Ich fühle mich betrogen. Betrogen um die Vorfreude, betrogen um meine Liebe zu diesem Land. Was soll ich tun? Trotzdem hinfahren, da die Situation vor Ort meistens weniger schlimm ist, als von aussen betrachtet? Oder doch lieber in Indien bleiben, wo es gerade so schön bequem ist? Zwei Gespräche, die ich kürzlich geführt habe, bestärken mich schliesslich im Entschluss hinzufahren.
Das erste Gespräch war mit Ali, einem Freund aus Indien, mit dem ich durch Kaschmir und Ladakh reiste. Die Strasse führte durch tausend Kurven und über unzählige Schlaglöcher immer hart am Abgrund entlang (s. Fotos Kashmir-Ladakh). Während ich entspannt in meinem Sitz zurücklehnte, fragte mich Ali etwas nervös, ob ich denn gar keine Angst hätte? «Nein», antwortete ich, «Ich hätte Angst, wenn ich auf dieser gefährlichen Strecke selbst am Steuer sitzen müsste. Angst davor einen Fahrfehler zu begehen. Aber als Passagier? Was kann ich denn schon tun ausser dem Fahrer und dem eigenen Glück zu vertrauen? Angst bringt nichts.»
Das zweite Gespräch führte ich mit Jeremy aus Frankreich, den ich ebenfalls in Indien getroffen habe. Er beschäftigt sich mit der Frage, wie frei sind Menschen in ihren Entscheidungen. Ist das Leben vorbestimmt und damit unser gesamtes Denken und Handeln bereits gegeben oder können wir es selbst lenken? Jeremy hat dazu während seiner Reise viele Menschen befragt und festgestellt, dass die meisten unabhängig ihrer Herkunft und Religion überzeugt sind, dass unser ganzes Leben von Gott abhängt.
«Worüber soll ich mir also den Kopf zerbrechen, wenn sowieso schon alles entschieden ist?»
Manchmal ist das allerdings leichter gesagt als getan. Das mulmige Gefühl im Hinblick auf meine bevorstehende Reise nach Bangladesch bleibt. Und als am Flughafen in Kolkata, die Fluggesellschaft erst nach Dhaka telefoniert, um abzuklären, ob Bangladesch in der momentanen Situation überhaupt Visa on Arrival ausstellt, ertappe ich mich beim Gedanken, dass ein «Nein» gar nicht so übel wäre. Im Gegenteil, es wäre eine äusserst elegante Lösung aus der Situation rauszukommen, ohne das Gesicht zu verlieren. Doch nach einer halben Stunde kommt das Okay. Ich bin auf dem Weg.
Wechselbad der Gefühle
Die ersten zwei Tage in Dhaka begleitet mich ein latentes Gefühl der Angst. Stehe ich mehrere Minuten exponiert am Strassenrand, während ich auf den Bus warte, frage ich mich, ob mich wohl schon jemand im Visier hat. In der Teestube setze ich mich so, dass ich die Strasse überblicken kann. Lässt es sich mal nicht vermeiden, mit dem Rücken zum Eingang zu sitzen, werfe ich immer wieder einen Blick über die Schulter, um zu sehen, was draussen vor sich geht. Fragt jemand nach meiner Nationalität, Konfession oder Tätigkeit, gebe ich zwar wahrheitsgetreu Auskunft, bin aber gleichzeitig alarmiert. Ist es bloss Neugier oder steckt mehr dahinter? Und manchmal frage ich mich, wie es sich anfühlen würde, wenn tatsächlich jemand das Feuer auf mich eröffnen würde. Welche Gedanken würden einem dabei durch den Kopf gehen, hätte man überhaupt Zeit zu denken, würde man realisieren was vor sich geht und wie schmerzhaft wäre es? Diese Gedanken, auch wenn sie nur kurz aufblitzen, erschrecken mich. Ich habe Angst damit die bösen Geister zu wecken und versuche sie wenn immer möglich zu unterdrücken.
Bangladesch und seine Menschen helfen mir dabei. Schon bald rückt die Angst in den Hintergrund. Das bunte Treiben auf den Strassen überflutet meine Sinne, lässt mich staunen und erschauern ab der Fülle und Tragik, die das Leben hier bereithält (siehe: Ist das noch leben?). Ich spüre die Wärme, welche mir die Einheimischen entgegenbringen. Fühle mich in ihrem Land willkommen, wie es wohl umgekehrt für viele momentan nicht der Fall wäre. Wildfremde Menschen kommen auf mich zu und bedanken sich, dass ich ihr Land besuche. Im Bus stehen ältere Männer auf, um mir einen Platz anzubieten. Rena, spricht zwar kein englisch, nimmt mich aber beschützend an der Hand und führt mich persönlich ans Ziel, als ich sie nach dem Weg frage. Und als ich meine ehemaligen Redaktionskollegen und Freunde wieder treffe, ist es, als wäre ich nie fort gewesen. Ich tadle mich innerlich, wie ich es je in Erwägung ziehen konnte nicht hinzufahren.
Am dritten Tag bekomme ich von einem Freund ein Fahrrad Marke Eigenbau zur Verfügung gestellt. Damit ist mein Glück perfekt. Fortan kann ich mich ganz unabhängig durch den dichten und verrückten Verkehr Dhakas schlängeln. Regeln gibt es keine oder sie werden nicht befolgt. Ich lerne schnell und überhole links und rechts, fahre auch mal in den Gegenverkehr hinein oder weiche aufs Trottoir aus, wenn sonst alles blockiert ist. Es macht riesig Spass, auch wenn ich nicht sicher bin welches Risiko grösser ist: Erschossen oder überfahren zu werden. Abgesehen von zerrissenen Hosen, ein paar Schürfungen und blauen Flecken, bleibe ich glücklicherweise unversehrt.
Habe oder bin ich das Problem?
Für die Einheimischen ist es ein ungewohntes Bild eine Ausländerin auf dem Fahrrad zu sehen. Aufgeregte «Bideshi»- oder «Foreigner»-Rufe verfolgen mich und lassen die ganze Strasse wissen, wer angebraust kommt. Velofahrer fangen ein Gespräch an oder fordern mich zu einem Rennen heraus, während wir für eine Weile die gleiche Strecke fahren und Motorradfahrer rufen mir zu, mit welcher Geschwindigkeit ich unterwegs bin. Und immer wieder sehe ich Leute, die anerkennend den Daumen hoch halten.
Die Aufmerksamkeit, die mir zuteil wird, zeigt aber auch, dass ausser mir kaum andere Ausländer draussen unterwegs sind. Bei Sicherheitskräften sorge ich somit öfters für Nervosität. Immer wieder werde ich an Polizei-Checkpoints, deren Anzahl nach den beiden Tötungsdelikten erhöht wurde, angehalten und gefragt, wo ich wohne oder ob ich irgendwelche Probleme hätte. Das wiederholt sich so oft, bis ich mich irgendwann selbst als Problem empfinde. Bringe ich meine Freunde in Gefahr, wenn ich auf dem Rücksitz ihrer Motorräder sitze oder neben ihnen die Strasse entlang gehe? Und welche Verantwortung mute ich meinen WG-Kollegen zu? Sie erhalten einen Anruf von der Hausverwaltung, die wissen will, wie ihr Sicherheitskonzept für mich aussieht.
Auch die Schweizer Botschaft in Dhaka ist besorgt. In einer E-Mail fordert sie ihre Staatsangehörigen in Bangladesch auf, sich möglichst unauffällig zu verhalten und sich nicht zu Fuss oder per Rickshaw fortzubewegen und sei es auch nur für kurze Distanzen (dass sich jemand mit dem Velo in den Verkehr stürzen könnte, scheint schon gar nicht zur Debatte zu stehen). Weiter solle man Menschenansammlungen jeder Art meiden und nach Einbruch der Dunkelheit das Haus nicht mehr verlassen.
Nach einem ersten Hoch erlebe ich nun also ein Tief. Was soll, was darf ich? Ich bin verunsichert, weiss aber, dass ich nicht die ganze Zeit zu Hause hocken will. Von meinen Redaktionskollegen erhalte ich einen Rüffel, als sie erfahren, dass ich mit fremden Menschen auf der Strasse plaudere und ihnen manchmal sogar auf eine Tasse Tee folge. Verbieten lasse ich es mir trotzdem nicht, denn damit wäre für mich der ganze Sinn des Reisens dahin. Andere Freunde meinen ich solle nur noch in Begleitung Fahrrad fahren. Bloss wie soll mich dieser Jemand vor einem Angriff schützen? Die Antwort darauf belustigt mich eher, als dass sie mich beruhigt: «Zumindest wäre dann jemand in der Nähe, der berichten könnte was passiert sei.» «Aha, damit der Daily Star sofort die Breaking News aufs Netz stellen kann?!», frage ich zurück. Schwarzer Humor ist in Bangladesch weit verbreitet und hilft den Menschen auch in schwierigen Zeiten zu lachen anstatt zu verzagen. Ernst meine ich allerdings meine Bitte im Fall der Fälle kein Foto von mir als Gewaltopfer zu veröffentlichen, wie es hier normalerweise üblich ist. Denn auf diesen Nahaufnahmen sieht niemand schön aus.
Damit es nicht so weit kommt, bietet mir Amran, ein Fotograf des Daily Star, seinen Schutz an: «Komm am Morgen jeweils zum Presseklub, danach gehen wir auf meinem Motorrad zusammen raus.» Dass ich dafür zuerst fast zehn Kilometer durch Dhaka radeln muss, scheint er dabei zu vergessen oder als nichtig zu betrachten. Abgesehen von einem Riesenvogel, der mich einmal auf meinem Weg entlang des Ramna Parks von Kopf bis Fuss vollscheisst, erreiche ich den Presseklub immer heil. Auch meine anderen Touren verlaufen ereignislos. Am Abend fahre ich manchmal zur Drik Fotoagentur, wo ich einen der Fotografen treffe. Adnan scheint einer der wenigen zu sein, der der allgemeinen Hysterie trotzt und nie versucht, mich durch irgendwelche Vorschriften einzuschränken (wie könnte er auch, schliesslich habe ich das Fahrrad von ihm erhalten? ;-)). Es tut gut zu fühlen, dass wenigstens jemand mir zutraut auf mich alleine aufpassen zu können. Klar, dass ich deshalb ihm gegenüber nie zugeben würde, dass ich manchmal verunsichert bin. Umso mehr bin ich überrascht und auch etwas erschrocken, als er mir bei einem unserer letzten Treffen sagt, dass er sich täglich Gedanken macht, wenn er weiss, dass ich irgendwo alleine da draussen unterwegs bin. Ich frage «Warum?», erwarte aber keine Antwort.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir meine Freunde nicht alles sagen. Dass es Informationen gibt, die sie mir vorenthalten, um mich nicht unnötig zu beunruhigen. Auf mein Argument, dass es vor zwei Jahren, doch auch schlimm war. Meinen sie: «Ja, aber jetzt ist es anders. Es ist gefährlicher. Auch wenn für dich alles normal erscheint, ist es alles andere als das. Niemand weiss, was als nächstes passieren wird.»
Trotz allem
Und passieren tut einiges. Ich bin auf der Redaktion, in der Ecke läuft der Fernseher. Obwohl die News in Bangla sind, merke ich, dass etwas nicht stimmt. Die Belegschaft des Daily Star wird still und versammelt sich vor dem TV-Gerät. Es wird vermeldet, dass ein Verleger getötet und ein weiterer Verleger sowie zwei Blogger am selben Morgen schwer verletzt wurden. Bereits früher in diesem Jahr wurden vier islamkritische Blogger niedergemetzelt. Im Internet kursiert eine Liste mit weiteren Namen von Freidenkern, deren Stimmen die Attentäter zum Schweigen bringen wollen. Ich rede mit Journalisten und Autoren die sagen, dass sie gewisse Texte nicht mehr unter ihrem richtigen Namen veröffentlichen. Andere denken darüber nach, das Land zu verlassen. Langsam verstehe ich, warum viele die Situation heute als gefährlicher einschätzen als vor zwei Jahren. Denn was passiert in einem Land, in dem sich niemand mehr getraut kritische Fragen zu stellen?
Ein anderes Mal, ich bin gerade auf dem Heimweg von einem Wochenendausflug mit zwei meiner Redaktionskolleginnen und ihren Verwandten, als wir von einem Bombenanschlag auf eine Prozession der schiitschen Minderheit in Old Dhaka erfahren. Sania liest die News von ihrem Natel vor. Die anderen Mitreisenden nehmen es ohne grosses Aufsehen zur Kenntnis. Ich bin erstaunt, wie gelassen sie mit solchen Nachrichten aus ihrer unmittelbaren Nachbarschaft umgehen. Es beweist einmal mehr wie anpassungsfähig der Mensch ist. Auch ich selbst habe mich schnell an das Gefühl von Unsicherheit gewöhnt. Trotze der Angst und versuche den Alltag möglichst normal zu gestalten und zu geniessen. Doch was passiert in einem Land in dem Meldungen über Gewalt bloss noch mit einem Schulterzucken wahrgenommen werden, um danach zum normalen Tagesablauf überzugehen? Ist es Widerstand oder Resignation?
Anfang Oktober überlebte ein Baptistenprediger eine Messerattacke nur knapp. Einen Monat später wird ein katholischer Priester auf seinem Fahrrad von Unbekannten beschossen und schwer verletzt. Ein paar Tage vor diesem Attentat habe ich den Tejgaon Friedhof in Dhaka besucht, wo Christen an Allerseelen ihren verstorbenen Verwandten und Freunden gedenken. Obwohl dieser Ort und Anlass als mögliches Ziel eines Terrorangriffs gehandelt wurde, drängten sich an diesem Abend hunderte von Menschen auf dem Friedhof. Ich bewundere Ihren Glauben, der stärker ist als die Angst.
Schuldzuweisung
Und wie reagiert die Regierung auf die erwähnten Vorfälle? Anstatt vehement daran zu arbeiten, die Verbrechen aufzudecken, tut sie die verschiedenen Attacken als Einzelfälle ab. Zu den Gerüchten, der IS könnte hinter den Tötungsdelikten an den beiden Ausländern stecken, sagt Premierministerin Sheikh Hasina «Der IS ist in Bangladesch nicht aktiv». Vielmehr schiebt sie die Schuld umgehend der Opposition zu. Auch in der Gewalt an Bloggern sucht die Regierung die Schuld bei der Opposition und den Opfern selbst. Anstatt den Personen auf der Todesliste Schutz zu gewähren, fordert sie sie auf, keine Artikel mehr zu veröffentlichen, die religiöse Gefühle verletzen könnten. Und das in einem Land, in dem Säkularismus in der Verfassung verankert ist und das bislang als moderat muslimischer Staat galt.
Viele kritische Stimmen sehen sich deshalb in den Untergrund gedrängt. Sie getrauen sich kaum mehr auf die Strasse, weil sie fürchten zu Tode gehackt zu werden. Vor zwei Jahren erhielt ich eine Ahnung, wie ein solches Leben aussehen kann. Ein paar Freunde in meiner Nachbarschaft verschafften mir Zugang zu Ahmed Imtiaz Bulbul, einem bekannten Komponisten und Texter. Er schloss sich als 15-jähriger der Unabhängigkeitsbewegung Bangladeschs an, geriet im Krieg von 1971 zweimal in pakistanische Gefangenschaft und sagte Jahre später als Zeuge gegen die Kriegsverbrecher aus dieser Zeit aus. Sein jüngerer Bruder wurde infolgedessen 2013 ermordert. Seither lebt Bulbul zurückgezogen und rund um die Uhr bewacht in einer kleinen Wohnung. Er empfängt mich in einem dunklen Raum, die Rollläden sind auch am Tag geschlossen. Im Vorzimmer sitzen drei Soldaten mit den Gewehren zwischen den Beinen. Als er später nach draussen geht, begleiten sie ihn. Ich schaue dem Mann mit den dunklen Locken und Schlapphut nach, wie er durch das Tor der Tiefgarage schreitet und draussen vom gleissenden Licht der Sonne verschluckt wird. Was für ein Leben.
Ende Oktober kommt von der Regierung doch noch eine Erfolgsmeldung. Im Mordfall am italienischen Entwicklungshelfer sind vier Personen festgenommen worden. Die Verdächtigen geben an, im Auftrag eines Hintermanns gehandelt zu haben, der ihnen dafür 500’000 Taka in Aussicht stellte (rund 6300.- CHF). Der Befehl lautete einen beliebigen Ausländer zu verletzen, um damit Panik auszulösen. Das ist ihnen sichtlich gelungen. Vor allem die Mischung aus Willkür und der Tatsache, dass Menschen sich aus purer Verzweiflung kaufen lassen, um andere zu töten, ist beängstigend.
Geniessen wir das Leben
Ich persönlich habe mich inzwischen mit dem Gefühl der Angst arrangiert. Für mich sind die Emotionen, die mir dieses Land und seine Menschen bescheren, das Risiko wert. Ich fühle mich selten so frei und glücklich wie hier, wenn ich nachts auf meinem Fahrrad an perplexen Polizisten vorbei und im Gegenverkehr über die Farmgate Kreuzung rausche und mir die Passanten «Aste, Aste!» (langsam, langsam) oder «Wrong side!» zurufen. Ich werde aufgesogen in diesem ewigen Strom aus Menschen und Fahrzeugen, werde zu einer schwarzen Silhouette im Scheinwerferlicht der unzähligen Busse, mein Lachen geht unter im allgemeinen Hupkonzert. Hier und jetzt fühle ich mich lebendig.
Fünf Tage nachdem ich Bangladesch wieder verlassen musste, steht Paris unter Schock. Es ist ein komisches Gefühl von Attentaten daheim in Europa zu lesen. Es tut mir leid für die Angehörigen der Opfer aber auch für die muslimische Gesellschaft. Denn sie wird nun einmal mehr mit Terrorismus gleichgesetzt. Dabei gehören Muslime zu den tolerantesten und freundlichsten Menschen, denen ich auf meinen Reisen begegnet bin. Und was ich von ihnen über den Islam und den Koran höre, hat mit dem, was Extremisten tun, nichts am Hut. Meine muslimischen Freunde in Bangladesch, Indien und Malaysia sind über die Vorfälle in Paris genauso geschockt wie wir.
Sicherheit gibt es nirgends. Deshalb: Geniessen wir das Leben, denn das Leben ist schön.
Vom 19. September 2013 bis am 17. Januar 2014 habe ich ein Praktikum als Fotojournalistin beim «Daily Star» in Dhaka, Bangladesch, absolviert. Damals habe ich mich in das Land und seine Menschen verliebt. Im Oktober 2015 bin ich für einen Monat nach Dhaka zurückgekehrt. Davon handelt dieser Bericht. Artikel und Fotos von meinem früheren Aufenthalt findet Ihr unter der Rubrik Bangladesch .
< Der lange Weg zurück in den AlltagKolkata Crush >
2 Comments
Carole, nice to read your stories. Good that you share your experiences with us. Admire your braveness though. Mach es gut,
Thanks Anton! Wish you and your family all the best for 2016!!